Sehr geehrte Frau Reichinnek, wie stehen Sie zu mangelnder Abgrenzung Ihrer Partei zum Linksextremismus, Linkspopulismus und Antisemitismus?
Inhaltlich stehe ich Ihrer Partei nahe. Leider sehe ich Spannungsfelder Ihrer Partei:
1. Auf Wahlplakaten nutzen Sie linkspopulistische Parolen wie "Ist Dein Einkauf zu teuer, macht ein Konzern Kasse." oder "Ist Deine Heizung zu teuer, macht jemand richtig Kohle.", bei denen angedeutet wird, dass hohe Kosten nur auf unrechtmäßige Bereicherung von Konzernen zurückzuführen sind, während die Realität häufig komplizierter ist. Ich unterstütze eine Entlastung der Ärmeren und Besteuerung der Besserverdienenden und Vermögenden. Populismus, ob rechts oder links, befördert aber immer Feindbilder.
2. Die Linksjugend ist in einigen Bundesländern wie Baden-Württemberg als gesichert linksextrem eingestuft.
3. Linker Antisemitismus ist seltener als Rechter, aber hat mehrere Anhänger in "die Linke".
Warum grenzt sich Ihre Partei nicht deutlich von Extremismus, Populismus und Antisemitismus ab? Wie stehen Sie dazu? Können Sie daraus folgenden Demokratieschaden durch Ihre Partei ausschließen?

Lieber Herr K.,
Zu ihrer ersten Frage: Mit den von Ihnen erwähnten Plakaten wollen wir Politik so zuspitzen, dass erstens möglichst viele Menschen einen Bezug zu ihrem Leben erkennen und dass zweitens bestehende Widersprüche deutlich werden. Natürlich ist die Realität kompliziert. Richtig ist aber auch, dass es eine massive Ungleichheit gibt, für die es politisch Verantwortliche gibt und dass diese Ungleichheit ziemlich konkret ist. Es gibt Leute, die nicht wissen, wie sie ihren Kindern die Klassenfahrt bezahlen sollen und es gibt Leute, die mit dem Privatjet nach Sylt fliegen. Ohne Frage ist das eine Zuspitzung, aber eine, die im besten Fall Aufmerksamkeit für grundlegende Fragen von Verteilungsgerechtigkeit schafft.
Zu 2. Sie beziehen sich hier auf das Landesamt für Verfassungsschutz. Wir finden, der Geheimdienst sollte nicht die Maßstäbe für die politische Diskussion vorgeben. Viel zu häufig schon haben Landesämter und Bundesamt für Verfassungsschutz unter Beweis gestellt, dass sie in fragwürdigen ideologischen Traditionen stehen, dass sie nicht ausreichend demokratisch kontrollierbar sind und dass ihre Einschätzungen mehr politischem Kalkül als wissenschaftlicher Güte folgen. Die Extremismusdoktrin, auf deren Grundlage der Geheimdienst arbeitet und die davon ausgeht, dass eine politisch neutrale Mitte von den gleichermaßen gefährlichen extremen Rändern bedroht wird, halten wir für analytisch falsch, politisch gefährlich und historisch unanständig.
3. Linker Antisemitismus ist seltener als Rechter, aber hat mehrere Anhänger in "die Linke".
Sämtliche Untersuchungen zu Antisemitismus in Deutschland zeigen, dass er in weiten Teilen der Gesellschaft verankert ist. Antisemitismus ist Teil des deutschen kulturellen Erbes, Teil der christlichen Kultur und Teil der Geschichte und Gegenwart. Als Linke setzen wir uns auf unterschiedliche Arten mit Antisemitismus auseinander. Wir treten gegen Geschichtsrevisionismus ein und wir erinnern an die Opfer der Shoah und sämtlicher Verbrechen des deutschen Faschismus. Diese Erinnerung verpflichtet uns auch zum Kampf gegen die neuen Nazis, deren Antisemitismus zu oft aus dem Fokus gerät. Natürlich setzen wir uns ebenfalls damit auseinander, dass auch in unserem Umfeld mitunter problematische Ansichten vertreten werden, zum Beispiel wenn es um den Konflikt im Nahen Osten geht. Diese Auseinandersetzung hat sich in vielen Erklärungen und Beschlüssen ausgedrückt und ist für uns nicht abgeschlossen. Wir sehen aber auch, dass der Fokus auf "Linken Antisemitismus" eine Funktion erfüllt, die für den Antisemitismus nach 1945 wesentlich ist: Er dient der Schuldabwehr und der Verschiebung der Verantwortung. Stattdessen setzen wir uns dafür ein, Antisemitismus in seiner ganzen Bedeutung für die deutsche Mehrheitsgesellschaft zu begreifen und zu bekämpfen.
Herzliche Grüße
Heidi Reichinnek