Frage an Harald Koch von Maximilian G. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Sehr geehrter Herr Koch,
ich hätte einige Fragen zur Integrationspolitik,wobei ich gerne ihre Meinung und die Meinung ihrer Partei hören würde.
Auf der Internetseite www.vielfalt-als-chance.de, herausgegeben von der Beauftragten der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration, ist zu lesen:
"Menschen mit Zuwanderungshintergrund sind eine wichtige Zielgruppe: Allein die 2,5 Millionen in Deutschland lebenden Türken haben eine Kaufkraft von 17 Milliarden Euro. Das entspricht dem Niveau des Saarlands"
Dies entspricht lediglich einer Kaufkraft 6800,00 € pro Kopf, der Durchschnitt liegt bei ca. 17.000 €.
Dazu hätte ich einige Fragen:
1. Ist Ihnen bekannt warum die Kaufkraft derart gering ist?
2. Wie viel dieser Kaufkraft besteht aus Transferleistungen des Staates?
3. Wie viel dieser Kaufkraft ist selbst erwirtschaftet worden?
Von mir bekannten Zöllnern wird berichtet, dass es an der Tagesordnung ist, dass größere Barbeträge von türkischen Mitbürgern in die Türkei transferiert werden. Diese "Kaufkraft" verbleibt also nicht in Deutschland. Die Fragen hierzu;
4. Wie hoch sind die angemeldeten ausgeführten Beträge?
5. Wie hoch ist die geschätzte Dunkelziffer von diesen ausgeführten Beträgen?
6.Wie hoch ist der wirtschaftliche Gewinn für Deutschland durch diese Migrantengruppe, wenn die Kosten
für Gesundheit (inkl. die in der Türkei mitversicherten Personen), Integration und Strafverfolgung
abgezogen werden?
Mit freundlichen Grüßen
Ihr Maximilian Gödicke
Sehr geehrter Herr Gödicke,
gerne möchte ich versuchen, auf Ihre Fragen einzugehen. Allerdings bitte ich Sie um Verständnis dafür, dass ich nicht mit entsprechendem Datenmaterial antworten werde, sondern mich stattdessen mit der Grundeinstellung befasse, die mir ihren Fragen zugrunde zu liegen scheint. Auch wenn Sie es nicht offen aussprechen: Ihre Zielrichtung ist offenkundig die, ein verbreitetes Vorurteil, wonach „uns" „die Ausländer" angeblich „zu viel kosten", mit realen Zahlen belegen zu wollen.
Für DIE LINKE aber - und Gleiches gilt übrigens auch für das Menschenbild des Grundgesetzes - bemisst sich der „Wert" eines Menschen, sein Anspruch auf menschenwürdige und rechtsstaatliche Behandlung, auf staatliche Unterstützung in sozialer Not, auf ein sicheres Aufenthaltsrecht usw. NICHT in seiner „Kaufkraft", seinem Einkommen oder seiner ökonomischen Verwertbarkeit.
Menschen oder Bevölkerungsgruppen lassen sich nicht darauf reduzieren, was sie „den Staat" (vermeintlich) kosten. Den Versuch, zu berechnen, wie „ertragreich" türkische Staatsangehörige bzw. deutsche Staatsangehörige türkischer Herkunft angeblich sein mögen, lehnen wir entschieden ab.
Um Ihre Fragen aber noch einmal anders zu beantworten:
Es ist richtig, dass die durchschnittliche Kaufkraft von Menschen mit Migrationshintergrund niedriger ist als diejenige von Menschen ohne Einwanderungsgeschichte. Es ist weiterhin so, dass das Einkommen der Bevölkerung mit Migrationshintergrund nur etwa 80% des Durchschnitts beträgt, Arbeitslosigkeit und Armutsrisiko sind hingegen doppelt so häufig verbreitet. Doch was sind die Gründe hierfür und was folgt daraus?
Die Gründe liegen zum einen in der Geschichte der „Gastarbeiteranwerbung" nach Deutschland: In den 50er und 60er Jahren wurden vor allem unausgebildete, preiswerte Arbeitskräfte für unqualifizierte Tätigkeiten benötigt und aus dem Ausland angeworben. Ohne sie hätte es das westdeutsche „Wirtschaftswunder" nie gegeben! Diese Arbeitskräfte hatten häufig einen geringen Bildungsstand und waren nicht selten sogar Analphabeten. Dass diese spezifische soziale Herkunft auch über die Generationen hinweg nachwirkt, ist angesichts des sozial höchst selektiven und ausschließenden Bildungssystems in Deutschland nicht verwunderlich.
Die Gründe für die soziale und ökonomische Benachteiligung von Migrantinnen und Migranten in Deutschland haben des Weiteren aber vor allem damit zu tun, dass die Bundesrepublik über Jahrzehnte hinweg aus ideologischen Gründen die Einwanderungssituation in Deutschland schlicht geleugnet hat („Deutschland ist kein Einwanderungsland"). Diese abwehrende Realitätsverweigerung führte dazu, dass es keinerlei staatliche Integrationsangebote für die hier längst sesshaft gewordenen Menschen gab. Es gab kein systematisches Sprachkursangebot, keine Förderhilfen und Schulen. Institutionen und Behörden wurden nicht den Bedürfnissen einer sich wandelnden Gesellschaft angepasst. Diese massiven Versäumnisse sind nicht den Migrantinnen und Migranten anzulasten, im Gegenteil: Sie sind vor allem die Leidtragenden dieser Entwicklung!
Was folgt aus der Feststellung, dass die Kaufkraft in bestimmten Bevölkerungsgruppen niedriger ist als in anderen?
Die Kaufkraft ist auch in den östlichen Bundesländern merklich geringer als in den westlichen, in manchen Gemeinden nur halb so hoch wie in reichen Gemeinden im West. Auch die „Kaufkraftbilanz" für Männer und Frauen dürfte erhebliche Unterschiede zu Tage fördern. Welche Lösungsvorschläge schweben Ihnen diesbezüglich denn vor?
Sie kämen vermutlich auch nicht auf die Idee auszurechnen, wie hoch der „wirtschaftliche Gewinn für Deutschland" bei der Gruppe der Hauptschülerinnen und Hauptschüler ist, wenn „Kosten für Gesundheit, Integration und Strafverfolgung abgezogen werden"? Die Nazis haben solche Berechnungen in Bezug auf Menschen mit Behinderungen angestellt, und dies führte letzten Endes zu einem verbrecherischen Massenmord...
Übrigens: Selbst wenn die nominelle Kaufkraft von Migrantinnen und Migranten niedriger sein mag - es ist bekannt, dass ärmere Menschen einen großen Teil des ihnen zur Verfügung stehenden Geldes direkt in die Konsumption und den Konsum stecken müssen, weil es um die unmittelbare Bedarfsdeckung geht (Ernährung usw.). Andere Teile der Gesellschaft mögen eine nominell größere „Kaufkraft" haben, von diesem Geld aber verschwindet ein relativ großer bzw. größerer Anteil auf der Bank oder in spekulativen Wertpapieren usw. Ein Nutzen für die Gesamtgesellschaft erwächst hieraus nicht - im Gegenteil, wie die aktuelle Finanz- und Wirtschaftskrise zeigt!
Ich kann Sie vorsorglich nur darauf hinweisen, dass mehr als die Hälfte aller Menschen mit Migrationshintergrund bereits die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt, und dass gerade die in Deutschland lebenden türkischen Staatsangehörigen ein gefestigtes Aufenthaltsrecht infolge der Verträge der EU mit der Türkei, aber auch auf der Basis des Grundgesetzes, haben.
Wir sollten begreifen, dass die deutsche Gesellschaft unwiderruflich - und das schon seit Jahrhunderten! - von Ein- und Auswanderung geprägt ist. Die Menschen, die hier leben, bilden diese Gesellschaft, und nur zusammen und solidarisch werden wir sozial gerechte und demokratische Lebensbedingungen für alle schaffen können - nicht aber durch das Ausgrenzung und Aussonderung oder das Schüren von Ressentiments und Missgunst.
Soweit Sie die von Migrantinnen und Migranten „ausgeführten Beträge" kritisieren, möchte ich Sie nur kurz darauf hinweisen, dass diese Zahlungen in Wissenschaft und Politik übereinstimmend als eine besonders wertvolle und effektive Form der „Entwicklungshilfe" betrachtet werden, die vielen Menschen ein Überleben in ihren Herkunftsländern sichert und künftige Migration aus purer Not vermindern hilft. Denn das von Familienangehörigen überwiesene Geld kommt in jedem Fall bei den Betroffenen an und „versickert" nicht in Regierungsapparaten oder fragwürdigen Vorzeigeprojekten. Und natürlich steht es jedem Menschen frei, über die Verwendung des eigenen Geldes frei zu verfügen; die uneigennützige Unterstützung von Familienangehörigen kann meines Erachtens schlechterdings kritisiert werden.
Sehr geehrter Herr Gödicke,
auch wenn ich Sie sicherlich nicht restlos überzeugen konnte, würde es mich doch sehr freuen, wenn ich Sie zumindest an der einen oder anderen Stelle zum Nachdenken anregen konnte.
Mit freundlichen Grüßen
Harald Koch