Frage an Hans-Peter Uhl von Matthias H. bezüglich Außenpolitik und internationale Beziehungen
Sehr geehrter Herr Dr. Uhl,
Bei dem Luftangriff in Kunduz auf zwei Tanklaster sind im September zwischen 70 und 140 Menschen getötet worden, darunter zahlreiche Zivilisten und möglicherweise auch Kinder. In der Union gab es unterschiedliche Beurteilungen des Vorfalls. Daher möchte ich Ihnen ein paar Fragen zu Ihrer persönlichen Einschätzung stellen.
Wie bewerten Sie die Bombadierung? Würde Ihr Urteil anders ausfallen, wenn es sich bei den Toten ausschließlich um Taliban-Kämpfer gehandelt hätte?
Den Bundeswehrsoldaten ist es offenbar erlaubt, auch ohne unmittelbare Gefahr oder Notwehrsituation Taliban-Kämpfer gezielt zu töten.
Dennoch frage ich Sie, ob es Ihrer Ansicht nach moralisch zu rechtfertigen ist, Terroristen, die mit Tanklastern auf einer Sandbank feststecken, zu bombadieren.
Herzlichen Dank und Freundliche Grüße
M. Hoffmann
Sehr geehrter Herr Hoffmann,
Bundesaußenminister Westerwelle hat in seiner Regierungserklärung vom 10. Februar 2010 ausgeführt: „Die Intensität der mit Waffengewalt ausgetragenen Auseinandersetzung mit Aufständischen und deren militärischen Organisationen führt uns zu der Bewertung, die Einsatzsituation von ISAF auch im Norden Afghanistans als bewaffneten Konflikt im Sinne des humanitären Völkerrechts zu qualifizieren. […] Die rechtliche Qualifizierung der objektiven Einsatzsituation von ISAF hat Konsequenzen für die Handlungsbefugnisse der Soldaten, für die Befehlsgebung und für die Beurteilung des Verhaltens von Soldaten in strafrechtlicher Hinsicht.“
Unsere Soldaten brauchen Rechtssicherheit für ihren Einsatz. Die Neubewertung der Bundesregierung hat dafür ein politisches Signal gesetzt: Für die Bundeswehr in Afghanistan sind nun die Regeln des humanitären Völkerrechts maßgebend - und nicht das deutsche Strafrecht. Die Bundesanwaltschaft hat sich am 16. April 2010 dieser Auffassung angeschlossen und das Ermittlungsverfahren gegen Oberst Klein wegen des Luftangriffs vom 4. September 2009 in der Nähe von Kunduz eingestellt. Der Angriff sei „völkerrechtlich zulässig“ gewesen, da Oberst Klein „nicht mit der Anwesenheit geschützter Zivilsten rechnen musste“.
‚Bewaffneter Konflikt’ ist ein Rechtsbegriff des Völkerrechts. Ein solcher Konflikt wird bei lang anhaltender bewaffneter Gewalt einer gewissen Intensität angenommen. Er ist ‚nicht-international’ wenn er innerhalb eines Staatsgebiets zwischen der Staatsgewalt und organisierten bewaffneten Gruppen ausgefochten wird. Die afghanische Regierung trägt, unterstützt von ISAF, einen bewaffneten Konflikt mit den Taliban aus.
Die ISAF-Kräfte - und somit auch die Bundeswehr - sind an der Seite der afghanischen Regierung Partei im bewaffneten Konflikt mit Aufständischen, sobald sie in Kampfhandlungen eingreifen. Dabei kommt es nicht darauf an, ob die Truppen unmittelbar angegriffen werden oder ob sie offensiv gegen Aufständische vorgehen. Die Normen des Völkerrechts (etwa für den Waffeneinsatz gegen gegnerische Kämpfer, zum Schutz der Zivilbevölkerung, zur Vermeidung ziviler Opfer) sind jedenfalls zu beachten. Diesen Anforderungen müssen auch die nationalen militärischen Einsatzregeln Rechung tragen.
Ich persönlich halte den Luftangriff von Kunduz - jedenfalls in der Rückschau - für unangemessen und für eine besonders bestürzende Tragödie. Ich möchte aber nicht so weit gehen, Luftangriffe auf Taliban, etwa wenn sie mit Tanklastern in einer Sandbank feststecken, generell als (ethisch) ungerechtfertigt zu bezeichnen. Ob und inwiefern ein solcher Angriff gebilligt werden kann, kommt aus meiner Sicht vorrangig auf die konkrete Situation an, insbesondere auf Art und Umfang der Bedrohung und auf die relevanten Handlungsalternativen.
Mit freundlichen Grüßen
Uhl