Frage an Hans-Peter Uhl von Moritz M. bezüglich Recht
Sehr geehrter Herr Uhl,
Wie erklären Sie sich, dass die Potsdamer Staatsanwaltschaft ein Verfahren gegen Angehörige der sowjetischen Roten Armee wegen eines Massakers an deutschen Zivilisten vom April 1945 in Treuenbrietzen (Brandenburg) gemäß Kontrollratsgesetz Nr. 4 einstellen musste (dies geschah Ende Oktober dieses Jahres), wenn laut ihrer Aussage alle Kontrollratsgesetze bis auf Kontrollratsgesetz Nr. 35 durch das Besatzungsrechts-Bereinigungsgesetz vom 30.11.2007 aufgehoben worden sein sollen? Die Staatsanwaltschaft spricht hier von einem "Verfahrenshindernis". Wie kann das Kontrollratsgesetz Nr. 4 ein Verfahrenshindernis sein, wenn es doch angeblich am 30.11.2007 aufgehoben wurde?
Mit freundlichen Grüßen
Moritz Multerer
Sehr geehrter Herr Multerer,
die Frage nach der Gerichtsbarkeit über die Kriegsverbrechen der Alliierten ist eine schwer zu durchschauende Rechtsmaterie.
In der früheren BRD wurde das Kontrollratsgesetz Nr. 4 bereits durch das Gesetz Nr. 13 der Alliierten Hohen Kommission vom 25. November 1949 außer Kraft gesetzt - ausgenommen das Verbot zur Rechtsprechung über Straftaten der alliierten Streitkräfte. Auch durch den Überleitungsvertrag zwischen der früheren Bundesrepublik Deutschland und den drei Westmächten vom 23. Oktober 1954 blieb eine gerichtliche Verfolgung der Kriegsverbrechen alliierter Streitkräfte ausgeschlossen. Zwar wurde auch dieser Überleitungsvertrag nach Nummer 2 der Vereinbarung vom 27./28. September 1990 zu dem Vertrag über die Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den Drei Mächten sowie zu dem Vertrag vom 12. September 1990 zur Regelung aus Krieg und Besatzung entstandener Fragen suspendiert und trat außer Kraft. Das gilt aber nach Nummer 3 der Vereinbarung jedoch ausdrücklich nicht für den entscheidenden Artikel 3 Absatz 2 und 3 des Überleitungsvertrages, der die deutsche Gerichtsbarkeit über Alliierte Streitkräfte weiterhin ausschließt. Durch das Besatzungsrechts-Bereinigungsgesetz vom 30.11.2007 wurde nur solches Besatzungsrecht aufgehoben, das nicht bereits in Landes- oder Bundesrecht überführt wurde. Letzteres ist für den erwähnten Art. 3 Absatz 2 und 3 durch die angesprochene Vereinbarung 1990 offenbar geschehen. Wie Sie sehen: Durch alle Rechtsreformen hindurch blieb die Regelung bestehen, dass die deutsche Justiz keine Zuständigkeit für die Verfolgung von Straftaten erlangen kann, die von Soldaten der Siegermächte im Zusammenhang bzw. nach Ende des Zweiten Weltkriegs in Deutschland oder gegenüber Deutschen (bis 1955) begangen worden sind.
Auch der Umstand, dass die mutmaßliche Tat von Treuenbrietzen auf dem Boden der ehemaligen DDR begangen worden ist, ändert nichts an diesem (traurigen) Befund: Dort ist das Kontrollratsgesetz Nr. 4 durch Beschluss des Ministerrats der UdSSR über die Auflösung der Hohen Kommission der Sowjetunion in Deutschland vom 20. September 1955 außer Wirkung gesetzt worden. Eine ausdrückliche Regelung zum teilweisen Fortbestand des Besatzungsrechts nach Erlangung der Souveränität musste die Sowjetunion in der DDR - anders als die Drei Mächte in der früheren Bundesrepublik - nicht schaffen. Denn die UdSSR konnte aufgrund der gegebenen Machtverhältnisse sicher sein, dass Behörden und Gerichte der DDR Straftaten der sowjetischen Streitkräfte aus der Zeit vor 1955 niemals verfolgen würden. Weiterhin ist davon auszugehen, dass die UdSSR im Rahmen der Verhandlungen zum Zwei-plus-Vier-Vertrag der Wiedervereinigung nur in der Annahme zustimmte, dass keine Straftaten ihrer Streitkräfte aus der Besatzungszeit verfolgt würden. Anderenfalls hätte dies zu einer Schlechterstellung der sowjetischen Besatzungsmacht im Vergleich gegenüber den westlichen Besatzungsmächten geführt, da deren Kriegsverbrechen nicht von deutschen Gerichten verfolgt werden können.
Im Ergebnis ist festzustellen, dass die deutsche Gerichtsbarkeit über Kriegsverbrechen der alliierten Streitkräfte nach wie vor ausgeschlossen ist. Kontrollratsgesetz Nr.4 - obzwar längst nicht mehr gültig - bildet daher (für den entsprechenden Zeitraum) bis heute die Basis für ein Verfahrenshindernis. Natürlich kann dieses Ergebnis unter Gerechtigkeitsaspekten nicht befriedigen. Eine Aufarbeitung unter diesem Aspekt können - neben der russischen Justiz - nur noch die Historiker leisten.
Ich bedaure, keine erfreulichere Mitteilung machen zu können.
Mit freundlichen Grüßen
Dr. Hans-Peter Uhl