Frage an Hans-Peter Friedrich von Anton jun. G. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Sehr geehrter Herr Minister Friedrich,
kürzlich fand in Ägypten ein Referendum über eine neue Verfassung statt, bei dem das Volk, also die wahlberechtigen Bürger, über die Vorlage entschied. Ich stelle mir die Frage, warum in der BRD meines Wissens dergeichen bisher nicht stattgefunden hat, d.h. eine Abstimmung des Volkes und nicht des Parlaments, über eine Verfassung.
Gem. Art. 146 des Grundgesetzes für die BRD "...verliert [dieses Grundgesetz] seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist."
Nach meinem Verständnis war das Grundgesetz aus bekannten Gründen als Provisorium vorgesehen, daher wurde es auch "Grundgesetz" und nicht "Verfassung" genannt. Es erscheint mir deswegen angezeigt, im Sinne des Art. 146 über die Verfassung abzustimmen.
Ich bitte um eine verbindliche Auskunft darüber, warum seit Inkrafttreten des Grundgestzes bis um heutigen Tag keine Volksabstimmung in der BRD über eine Verfassung stattgefunden hat, obwohl dies explizit im Grundgesetz vorgesehen ist bzw. welche Meinung Sie und die Bundesregierung über eine derartige Volksabstimmung vertreten.
Mit freundlichen Grüßen
Anton Gebhard jun.
Sehr geehrter Herr Gebhard,
vielen Dank für Ihre Frage zu einem Verfassungsreferendum nach Artikel 146 des Grundgesetzes. Wie Sie wissen, wurde das Grundgesetz im Jahr 1949 bewusst nicht als eine durch Volksabstimmung zu beschließende Verfassung im klassischen Sinne geschaffen. Vielmehr wurde es als provisorische Regelung der staatlichen Grundordnung bis zur angestrebten Wiedervereinigung Deutschlands konzipiert. Inhaltlich enthielt und enthält das Grundgesetz aber sämtliche Merkmale einer Verfassung und hat sich inzwischen in über 60 Jahren Staatspraxis bewährt. Trotz der Bezeichnung bestehen daher im juristischen Sinne keine verfassungsrechtlichen Zweifel an der Rechtsqualität des Grundgesetzes als Verfassung der Bundesrepublik Deutschland. In der nach dem Einigungsvertrag neugefassten Präambel des Grundgesetzes wird klargestellt, dass mit der in freier Selbstbestimmung vollendeten Einheit und Freiheit Deutschlands das Grundgesetz für das gesamte deutsche Volk gilt.
Die in Artikel 5 des Einigungsvertrages den gesetzgebenden Körperschaften des vereinten Deutschlands empfohlene Gemeinsame Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat, die über mögliche weitere Verfassungsänderungen im Zusammenhang mit der Widerherstellung der staatlichen Einheit beraten sollte, hat auch die Frage eines möglichen Verfassungsreferendums im Sinne des Artikels 146 GG diskutiert. Dazu wurde vorgetragen, dass das Grundgesetz bereits jetzt uneingeschränkt demokratisch legitimiert sei. Außerdem sei durch die Beschlüsse der Volkskammer und des Bundestages sowie des Bundesrates eindeutig zum Ausdruck gebracht worden, dass das Grundgesetz die gesamtdeutsche Verfassung sei (vgl. BT-Drs. 12/6000, S. 108 ff.). Im Ergebnis setzte sich daher in der Gemeinsamen Verfassungskommission die Auffassung durch, die Frage eines Verfassungsreferendums auf der Grundlage des Artikels 146 GG im gegenwärtigen Zeitpunkt nicht weiter zu verfolgen.
Auch Artikel 146 GG in der neuen Fassung stellt klar, dass das Grundgesetz nun für das gesamte deutsche Volk gilt. Im Übrigen spricht die Neufassung nur vom Außerkrafttreten an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts kommt darin zum Ausdruck, dass das Grundgesetz den Erlass einer neuen Verfassung jedenfalls nicht ausschließt. Darüber hinaus lässt sich jedoch eine Pflicht staatlicher Stellen zur Durchführung einer Volksabstimmung über eine neue Verfassung der Vorschrift nicht entnehmen. Entsprechend verleiht Artikel 146 GG auch kein verfassungsbeschwerdefähiges Individualrecht, den Erlass einer neuen Verfassung oder darauf gerichtete Vorbereitungsmaßnahmen zu erzwingen (vgl. BVerfGE 89, 155, 180).
Da aus Artikel 146 GG insofern keine verfassungsrechtliche Verpflichtung zur Ablösung des Grundgesetzes folgt, müssen politische Vorstöße in diese Richtung sehr sorgfältig überlegt werden und vor allem auch die in den letzten Jahren zunehmend bedeutsamer gewordene europäische Dimension berücksichtigen. Ich bin der Auffassung, dass wir gegenwärtig nicht in einer Situation sind, die eine Verfassungsreformdiskussion in diesem Sinne notwendig erscheinen lässt. Das Bundesverfassungsgericht hat die Vereinbarkeit des europäischen Vertragswerks und auch der Maßnahmen im Zusammenhang mit der Stabilisierung des Euro-Raumes mit dem Grundgesetz bestätigt, zugleich aber auch Grenzen aufgezeigt, bei denen wir uns ggf. künftig ebenfalls der Frage eines Verfassungsreferendums stellen müssen.
Mit freundlichen Grüßen
Dr. Hans-Peter Friedrich