Frage an Hannelore Kraft von Fernando A. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Sehr geehrte Frau Kraft,
Das in Sie gesetzte Vertrauen ist leider durch den ganzen "Zirkus der letzten Wochen" in Mitleidenschaft geraten.
Bitte erklären Sie mir, wie Sie NRW zukünftig nun doch noch, nach den bisherigen Mißerfolgen, wirksam regieren wollen! Wie können Sie uns, den Bürgern, ein Weiterkommen von NRW garantieren?
Vielen Dank im Voraus.
Fernando Aust
Sehr geehrter Herr Aust,
vielen Dank für Ihre Mail.
Am 9. Mai 2010 haben die Bürgerinnen und Bürger in NRW den neuen Landtag gewählt - mit einem guten Ergebnis für die SPD.
Das Wahlergebnis hat uns vor schwierige Aufgaben gestellt: Wir haben die Wahl nicht gewonnen. Rot-Grün fehlt ein Sitz zur Mehrheit im Landtag. Andererseits gab es ein klares Votum für einen Politikwechsel in Nordrhein-Westfalen. Rot-Grün hat 400.000 Stimmen mehr und damit 10 Stimmen mehr im Parlament als Schwarz-Gelb.
Angesichts dieser schwierigen Situation hatte der Landesvorstand am 10. Mai beschlossen, mit allen in den Landtag gewählten Parteien Sondierungsgespräche zu führen. Wir wollten prüfen, mit wem ein Politikwechsel in Nordrhein-Westfalen möglich ist. Wir haben diese Gespräche ergebnisoffen und mit dem festen Willen aufgenommen, zu einer stabilen Regierung für NRW zu kommen. Wir haben dann (gemeinsam mit den Grünen) mit der Linkspartei und mit der FDP sondiert. Die Delegation der SPD hat aber auch ausgelotet, ob es möglicherweise zu einer Großen Koalition kommen kann.
Das Gespräch mit der Partei „Die Linke“ hat uns gezeigt, dass unsere Einschätzung aus dem Wahlkampf richtig war: Diese Partei ist derzeit weder koalitions- noch regierungsfähig.
Die Gespräche über eine Ampelkoalition sind von der FDP beendet worden, obwohl es aus meiner Sicht durchaus Anknüpfungspunkte für eine Zusammenarbeit hätte geben können.
Mit der CDU haben wir in drei Gesprächen ausgelotet, ob es eine Basis für eine gemeinsame Regierungsarbeit geben kann. Dabei ist sehr deutlich geworden, dass ein Politikwechsel, wie wir ihn wollen - nämlich eine Veränderung der politischen Kultur in NRW, eine inhaltliche Neubestimmung und ein personeller Neuanfang - ist mit der CDU nicht möglich ist.
Deshalb wurde entschieden, dass wir den Politikwechsel zunächst aus dem Parlament heraus gestalten wollten. Entscheidend war in dem Beschluss aber das Wort „derzeit“. Denn klar war: Wenn eine Situation entsteht, in der es gilt, Schaden von Nordrhein-Westfalen und seinen Bürgerinnen und Bürgern abzuwenden, wollten wir eine neue Positionierung vornehmen.
Dass eine solche Situation so schnell eintreten würde, war auch für mich selbst überraschend. In einem am 17. Juni 2010 erschienenen Beitrag in der „Westdeutschen Allgemeinen Zeitung“ hat der Vorsitzende der FDP in Nordrhein-Westfalen, Andreas Pinkwart, die schwarz-gelbe Regierung in NRW für beendet erklärt. Mit Ablauf der Legislaturperiode sei die Verpflichtung zum Konsens zwischen CDU und FDP hinfällig. Die FDP, so Pinkwart weiter, wolle im Landtag auf eigene Rechnung für Mehrheitsentscheidungen werben.
Die bemerkenswerten Sätze von Herrn Pinkwart haben deutlich gemacht: In NRW gibt es keine geschäftsführende Landesregierung mehr, die gemeinsame Ziele verfolgt. Es gibt nur noch geschäftsführende Ministerinnen und Minister sowie einen geschäftsführenden Ministerpräsidenten, denen jede gestalterische Kraft abhanden gekommen ist. Jürgen Rüttgers kann sich nach den Aussagen von Herrn Pinkwart nur noch auf die 67 Stimmen der CDU-Fraktion im Landtag stützen. Eine handlungsfähige Regierung gibt es damit in Nordrhein-Westfalen nicht mehr.
Diese Auflösungserscheinungen bei Schwarz-Gelb verlangen ein schnelles und konsequentes Handeln. NRW braucht eine stabilere Regierung, als sie Jürgen Rüttgers noch bieten kann. Deshalb ist es nunmehr notwendig, eine Minderheitsregierung von SPD und Bündnis 90/Die Grünen zu bilden, um den von den Wählerinnen und Wählern gewollten Politikwechsel in NRW herbeizuführen. Rot-Grün hat im Landtag zehn Stimmen mehr als Schwarz-Gelb. Wir wissen: Es fehlt eine Stimme zur absoluten Mehrheit. Allerdings brauchen wir für die meisten Entscheidungen nur eine einfache Mehrheit.
Das bedeutet, wenn nicht CDU, FDP und Linke geschlossen gegen Rot-Grün stimmen, können wir unsere gemeinsamen Vorhaben durchsetzen. Wir sagen selbstbewusst, dass wir mit unseren guten Inhalten Mehrheiten im Parlament finden werden. Wir laden ausdrücklich alle im Landtag vertretenen Parteien ein, mitzuwirken und eine gute Entwicklung für NRW nicht zu blockieren.
Ich bitte an dieser Stelle herzlich um Vertrauen dafür, dass wir weiterhin alles in unserer Macht stehende dafür tun werden, die Ziele und Konzepte, für die die Menschen uns gewählt haben, auch umzusetzen.
Mit freundlichen Grüßen
Hannelore Kraft