Frage an Gustav Herzog von Christoph W. bezüglich Recht
Sehr geehrter Herr Herzog,
diese Woche soll entschieden werden, dass die Bundesländer Kompetenzen aufgrund der Corona-Pandemie abtreten. Dies ist im Grundgesetz nicht vorgesehen. Liest man z.B. bei Wikipedia unter "Förderalismus" nach, findet man Sätze wie "In der Bundesrepublik ist der Föderalismus durch Artikel 20 des Grundgesetzes ein Staatsstrukturprinzip und somit grundlegender Teil des politischen Systems. Die Ewigkeitsklausel legt fest, dass er unabänderlich festgeschrieben ist." oder "Auch keine verfassungsändernde Zweidrittelmehrheit des Deutschen Bundestages und des Bundesrates darf die föderale Struktur und Organisation der Bundesrepublik aufheben."
Wie stehen Sie als Sozialdemokrat diesem - meiner Meinung nach demokratieschädlichen und beängstigenden- Ansatz gegenüber?
Mit freundlichen Grüßen
Christoph Welker
Sehr geehrter Herr Welker,
vielen Dank für Ihre Anfrage, auf die ich gerne eingehe.
Leider muss ich Ihnen in Ihrer Einschätzung deutlich widersprechen. Ein Vorgehen, wie es gerade diskutiert wird, ist explizit im Grundgesetz so vorgesehen. In unserem föderalen System unterscheiden wir ausschließende und konkurrierende Gesetzgebung - Artikel 70 bis 74 des Grundgesetzes befassen sich mit dieser Unterscheidung. Das Grundgesetz regelt, in welchen Bereichen der Bund die ausschließliche Gesetzgebungskompetenz, d. h. die alleinige Befugnis der Gesetzgebung hat (Art. 73 GG), in welchen Bereichen die Länder alleinig zur Gesetzgebung befugt sind (Art. 70 Abs. 1 GG) und in welchen Bereichen sowohl der Bund als auch die Länder über Gesetzgebungskompetenzen verfügen (Art. 74 GG). Dieser letzte Bereich fällt damit unter die konkurrierende Gesetzgebung.
Artikel 72 Absatz 1 des Grundgesetzes regelt: "Im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung haben die Länder die Befugnis zur Gesetzgebung, solange und soweit der Bund von seiner Gesetzgebungszuständigkeit nicht durch Gesetz Gebrauch gemacht hat." Ein Rechtsgebiet, das der konkurrierenden Gesetzgebung unterliegt, sind gemäß Artikel 74 Absatz 1 Nummer 19 "Maßnahmen gegen gemeingefährliche oder übertragbare Krankheiten bei Menschen und Tieren". Dem Bund kommen damit vorrangige Gesetzgebungskompetenzen für den Infektionsschutz zu.
Ich möchte an dieser Stelle auf das jüngste Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages vom 29. März 2021 zur Reichweite der Gesetzgebungskompetenz des Bundes im Infektionsschutzrecht (WD 3 - 3000 - 068/21 https://www.bundestag.de/resource/blob/831634/8bea2d9b13fb7f2c8ffce0532e58ef97/WD-3-068-21-pdf-data.pdf) verweisen, das folgende Schlussfolgerungen aus der Gesetzeslage zieht: "Der Bund kann die Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie vollumfänglich gesetzlich regeln. So kann er etwa vorgeben, welche konkreten Maßnahmen im Falle der Überschreitung eines bestimmten Inzidenzwertes in einem Gebiet (etwa in einem Landkreis) ergriffen werden müssen. Die Verordnungsermächtigung an die Landesregierungen nach § 32 IfSG kann der Bundesgesetzgeber aufheben. Die Ausführung der gesetzlichen Vorschriften wäre nach Art. 30, 83 GG ausschließliche Angelegenheit der Länder. Bei einer detaillierten Regelung der zu ergreifenden Maßnahmen, die unbestimmte Rechtsbegriffe soweit wie möglich vermeidet und so wenig wie möglich Ermessen einräumt, bliebe den Ländern dabei allerdings kaum eigener Spielraum."
Der Wissenschaftliche Dienst kommt darüber hinaus zu dem Schluss, dass der Bund ebenso dazu befugt ist, Infektionsschutzmaßnahmen in Gemeinschaftseinrichtungen wie Schulen zu beschließen. Dies begründet er damit, dass die Länder zwar die ausschließende Gesetzgebungskompetenz über das Schulrecht haben, der Schwerpunkt der pandemiebedingten Regelungen zu z. B. Schulschließungen aber im Infektionsschutz liegt. Schließlich ist es nicht das Ziel dieser Regelungen, in die Ausgestaltung des Lehrplans oder ähnliche schulwesentliche Punkte einzugreifen, sondern die Ausbreitung der Pandemie unter den Schüler:innen, Lehrer:innen und anderen Angestellten sowie deren Haushaltsmitgliedern zu verhindern.
Herr Welker, ich hoffe, ich konnte verständlich machen, dass die bundesgesetzliche Regelung der Eindämmungsmaßnahmen keinen Angriff auf den Föderalismus oder das Grundgesetz darstellt, wie Sie es in Ihrer Anfrage suggerieren, sondern ganz im Gegenteil ein im Grundgesetz geregelter Mechanismus des föderalen Systems ist. Darüber hinaus ist vorgesehen, dass Rechtsverordnungen der Bundesregierung der Zustimmung des Bundestages und des Bundesrates bedürfen - es wird also kein Blankoscheck an die Regierung ausgestellt oder über die Köpfe der Länder hinweg entschieden.
Da dieses bundesweite Vorgehen allerdings nicht alternativlos ist, möchte ich Ihnen dennoch gerne meine Einschätzung hierzu darlegen. Auch mir wäre es lieber, wir könnten bei der regional individuelleren Herangehensweise, bei der die Ausgestaltung der Maßnahmen den Ländern obliegt, bleiben. Angesichts der unleugbar dramatischen Entwicklung des Pandemiegeschehens seit einigen Wochen halte ich den Schritt der bundesweiten Notbremse allerdings für unvermeidbar notwendig. Von dem Vorteil der Flexibilität, den der regionale Ansatz theoretisch verspricht, wurde nicht oder in unzureichend verantwortungsbewusster Art und Weise Gebrauch gemacht. Das zögerliche Verhalten der Länder kostet nicht nur hohe wirtschaftliche und psychologische Schäden, sondern auch unzählige Menschenleben. Das viel zitierte Bild vom Hammer und dem Tanz scheint auch hier wieder passend. Den Tanz mit dem Tiger haben wir in den letzten Monaten versucht und sind gescheitert. So sehr es auch schmerzt: Wir brauchen noch einmal den unflexiblen Bundeshammer, um das Pandemiegeschehen wieder in den Griff zu bekommen, bevor wir einen erneuten Tanz versuchen können.
Mit freundlichen Grüßen,
Gustav Herzog