Frage an Gustav Herzog von Volker U. bezüglich Soziale Sicherung
Sehr geehrter Herr Abgeordneter,
Spiegel-online konnte ich am 26.2.2018 "Arbeitslose in Deutschland am ehesten arm" entnehmen, daß lt. Eurostat das Armutsrisiko für Arbeitslose in Deutschland mit 70,8%, gemessen am EU-Schnitt von 48,7% mit großem Abstand am höchsten ist. Wie erklären Sie sich diesen negativen Sachverhalt, unter dem Aspekt "sozial", da das Arbeitsministerium in den vergangenen 20 Jahr-mit Ausnahme einer Legislatur- stets in SPD-Hand war? Ferner bitte ich um Beantwortung der Frage, wie Sie sich den zukünftigen, sozialeren und gerechteren Erneuerungsprozeß der SPD vorstellen, wo gerade das derzeitige Spitzenpersonal Andrea Nahles und Olaf Scholz, Minister/in des besagten Arbeitsministeriums waren? Vielen Dank.
Mit freundlichen Grüßen
V. U.
Sehr geehrter Herr U.,
besten Dank für Ihre Frage zu einem Artikel in „Spiegel Online“. Zunächst einmal möchte ich kritisch in Richtung „Spiegel Online“ anmerken, dass zwar die erwähnten Daten der zugrunde liegenden Statistik entsprechen, aber nirgendwo in dem Artikel ein Link zu der Studie an sich zu finden ist. Selbst für Menschen, die routiniert im Recherchieren in EU Statistik Datenbanken sind, ist es nicht leicht, „mal eben“ die Quelle für die Daten zu finden. Der durchschnittliche Leser des Beitrags geht also mit der Botschaft nach Hause, dass, überspitzt formuliert, Deutschland quasi das Armenhaus Europas ist, insbesondere im Hinblick auf Arbeitslose. Das halte ich für journalistisch grob fahrlässig und freue mich daher umso mehr über Ihre Frage, da sie mir die Gelegenheit gibt, sachlich auf Artikel und die Quelle einzugehen.
Hier zunächst für Sie und alle Interessierten der Link:
http://ec.europa.eu/eurostat/web/products-eurostat-news/-/DDN-20180226-1?inheritRedirect=true&redirect=%2Feurostat%2F
Zum Inhalt:
Armut und die Gefahr sozialer Ausgrenzung wird europaweit statistisch meist wie hier relativ gemessen, was konkret heißt: wer 60% oder weniger des durchschnittlichen Nettoeinkommens seines Landes (der s. g. Median) als Haushaltseinkommen zur Verfügung hat, gilt als arm. Der Median in Deutschland 2016: Single 1615 Euro netto, also Armutsgrenze bei 969 Euro netto. Familienmedian 3392 netto, ergo Armutsgrenze 2035 Euro netto. Quelle: Statistische Ämter des Bundes und der Länder 2016.
Interessant ist, dass in vielen Jahren der Median stetig nach oben ging und geht, da es im mittleren und oberen Einkommenssegment deutliche Steigerungen gab, die das Durchschnittseinkommen nach oben gezogen haben, ohne dass es eine dazu proportionale Inflation gab. Was z. B. bedeutet, dass es einem Menschen mit Einkommen X 2013 statistisch „gut“ ging, aber ein Jahr später bei gleichem Einkommen und gleichen Lebenshaltungskosten statistisch „schlecht“, da der Median entsprechend gestiegen ist. Das aber nur am Rande.
Wichtiger erscheint mir noch der Blick auf das Armutsrisiko der Gesamtbevölkerung in den EU-Ländern. In der nachfolgenden Statistik der EU wird deutlich, dass Deutschland mit konstant um die 20% in den Jahren 2010-2015 deutlich unter dem EU-Schnitt (23,3%) liegt. Damit will ich nicht sagen, dass wir zufrieden sein können- nein, im Gegenteil. Als wirtschaftsstarkes Land müssen wir alles daran setzen, um ähnlich wie z. B. Schweden 15% oder besser noch weniger zu erreichen. Aber ich will verdeutlichen, dass wir in Sachen Armut definitiv nicht das unrühmliche Schlusslicht in Europa sind, sondern uns im positiven Sinne im oberen Drittel im EU-Vergleich befinden.
Wie ist nun dieser vermeintliche Widerspruch zu erklären? Einerseits Schlusslicht bei der relativen Armut der Arbeitslosen, anderseits wesentlich besser gestellt bei der Gesamtbevölkerung? Hier hilft ein Blick auf die Arbeitslosenquoten im EU-Vergleich: Nur Tschechien (2,3%) hat eine geringere Arbeitslosenquote als Deutschland (3,6%), alle (!) anderen Länder eine höhere, bis hin zu 16,4% in Spanien und 20,7% in Griechenland:
https://de.statista.com/statistik/daten/studie/160142/umfrage/arbeitslosenquote-in-den-eu-laendern/
Lieber Herr U., wir haben uns hier auf abgeordnetenwatch schon häufiger über Themen rund um Armut und Ungerechtigkeit ausgetauscht. Daher wissen Sie, dass ich mich genauso wenig wie Sie mit dem IST-Zustand abfinde und mich als SPD-Politiker für weitere Verbesserungen der Lebensverhältnisse gerade der Menschen mit niedrigen Einkünften einsetze. Aber ich gehöre nicht zu denjenigen, die bereits erzielte Schritte auf dem richtigen Weg klein reden (z. B. Stichwort Gesetzlicher Mindestlohn) und auch nicht zu denen, die unsere gegenwärtige wirtschaftliche und soziale Lage in Deutschland schlechter reden als sie ist. Wer das tut, versperrt genauso den notwendigen Blick auf die Realität wie diejenigen, die alles schöner reden als es ist.
Herzliche Grüße,
Gustav Herzog