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Gregor Gysi
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Frage von Stefan M. •

Frage an Gregor Gysi von Stefan M. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen

Sehr geehrte Herr Dr. Gysi,

in einigen wesentlichen Punkten ist mir "Ihre" Partei sehr sympatisch. Aus Gründen demokratischer Vielfalt ist es wünschenswert, dass es eine Partei gibt, die eine echte linke Sozialagenda vertritt.

In anderen Punkten halte ich die Parteilinie für fernab der Realität.

Beispiel: Thema Rente. Natürlich ist eine undifferenzierte Einführung der Rente mit 67 (und bald wohl mit 70...) kritikwürdig. Andererseits ist der demographische Wandel nicht wegzudisktuieren, und durch produktiven Fortschritt allein lässt sich das Überalterungsproblem nicht lösen. Politik muss sich dieser Realität also stellen. Das tut die Linke nicht, sie leugnet stattdessen das Problem...

Meine Sorge dabei ist einfach die, dass die Linke als derzeit einzige Kraft für eine wirkliche soziale Marktwirtschaft damit für (zu) viele Menschen unwählbar bleibt. Damit marginalisiert sie sich selbst. Zudem fürchte ich, dass die Kampagnen gegen die Linke a la "Realitätsfremde Genossen" schon mittelfristig zu einem Abstieg der Linken führen wird, wenn sie sich nicht handfester mit realisitischen Problemen auseinandersetzt.

Dieser Abstieg wäre dann aber für die Millionen Arbeitslosen, Geringverdienenden, Kranken und Behinderten, die auf eine linke Politik angewiesen sind, ein Bärendienst.

Meine Frage daher: Muss nicht mehr "Realität" für die linke Programmatik her, um sich im Parteienspektrum zu stabilisieren?

MfG,
Stefan Madlung

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Antwort von
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Sehr geehrter Herr Madlung,

Ihre Nachricht vom 10. November hat mich erreicht.
Selbstverständlich muss meine Partei eine realitätsbezogene Politik betreiben. Die Angelegenheit mit der Rente sehe ich allerdings völlig anders. In den letzten 100 Jahren ist der Anteil der über 65-jährigen um 170 % angestiegen ohne eine Verschiebung des Rentenalters. In den nächsten 50 Jahren soll nach wissenschaftlichen Prognosen die Gruppe der über 65-jährigen lediglich um 77 % ansteigen. Wenn ein Anstieg um 170 % keine Kürzung der Rente um zwei Jahre erforderte, dann ein Anstieg um 77 % erst recht nicht.

Entscheidend ist und bleibt die Produktivitätsentwicklung. Und diese steigt in einem Maße, dass die gesetzliche Rente ab Vollendung des 65. Lebensjahres auch in Zukunft bezahlt werden könnte. Darüber hinaus schlagen wir vor, in der nächsten Generation einzuführen, dass sämtliche Bezieherinnen und Bezieher von Einkommen in die gesetzliche Rentenversicherung einzahlen müssen, auch Rechtsanwälte, Ärzte, Bundestagsabgeordnete, Beamte etc. Als Bismarck die gesetzliche Rentenversicherung einführte, waren 90 % derjenigen, die ein Einkommen hatten, abhängig beschäftigt. Heute sind es nur noch 60 %. Dieser Tatsache muss dadurch Rechnung getragen werden. Darüber hinaus schlagen wir vor, die Beitragsbemessungsgrenze aufzugeben, damit auch die hohen Einkommen zur Finanzierung der gesetzlichen Rentenversicherung herangezogen werden können. In diesem Falle muss der Rentenanstieg für die höheren Beitragssätze abgeflacht werden. Das ist in einer solidarischen Versicherung üblich und notwendig. Wir sollten das Schweizer Motto übernehmen, wonach die Millionäre zwar keine gesetzliche Rente benötigen, aber die gesetzliche Rentenversicherung die Millionäre. Würde dieser Weg beschritten werden, ließe sich eine Rente ab 65 Jahren auf jeden Fall finanzieren. Ebenso ließe sich finanzieren, die alte Rentenformel wieder einzuführen, d. h. die Rentnerinnen und Rentner adäquat an der Lohnentwicklung zu beteiligen. Bei einer solchen Reform könnte der Beitragssatz sogar gesenkt werden, weil heute die durchschnittlich Verdienenden deshalb soviel bezahlen müssen, weil die hohen Einkünfte zur Finanzierung nicht herangezogen werden.

Mit freundlichen Grüßen
Dr. Gysi

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