Frage an Gerold Reichenbach von Jürgen S. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Sehr geehrter Herr Reichenbach,
das Parlament verabschiedete kürzlich mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen von Union und FDP sowie der SPD eine Änderung des Telekommunikations-gesetzes. Modifiziert wird darin die sogenannte Bestandsdatenauskunft, die Telekommunikations-anbieter verpflichtet, bestimmte gespeicherte Kundendaten an Ermittlungsbehörden herauszugeben. Konkrete Verbindungsdaten fallen nicht darunter, aber dafür einige sehr persönliche Daten: Name, Anschrift, Geburtsdatum, Telefonnummer, E-Mail-Adressen, Faxnummern und die Bankverbindung. Nur noch in bestimmten Fällen müssen Richter dem Zugriff der Behörden zustimmen.
Die Praxis der BAFIN und der Sozialbehörden zeigt, dass freizügige Zugriffsrechte auf Bankkonten zu steigender Datenschnüffelei führt. Finanzbehörden fragen Arbeitnehmer- und Renten- und Versicherungsdaten ab, Bewegungsprofile werden im Mobilfunknetz gespeichert und bei Bedarf ausgewertet, Flugdaten und Geldtransfers von Geheimdiensten gescannt - um nur einige Beispiele zu nennen. Eine Totalüberwachung des Bürgers, der gegen unsinnige Bauprojekte, einen entfesselten Kapitalmarkt und die Auswüchse des Turbo Kapitalismus protestiert, ist technisch möglich. Wer die zunehmend von wenigen Parteioligarchen autoritär am Bürger und am Parlament vorbei praktizierten Regierungsführung beobachtet, fragt sich, wohin das führen soll.
Bitte erklären Sie, aus welchem Grund die SPD diesem erneuten Eingriff in Bürgerrechte zugestimmt hat.
Mit freundlichen Grüßen - J.Schlotzhauer
Sehr geehrter Herr Schlotzhauer,
vielen Dank für Ihre Anfrage vom 22.03.2013 bei abgeordnetenwatch.de.
Die Bestandsdatenauskunft regelt, dass Telekommunikationsanbieter den zuständigen Stellen Auskunft zu den bei ihnen gespeicherten Kundendaten geben müssen, wenn dies im Einzelfall erforderlich ist. In keinem Fall erhalten die Behörden aber Informationen über konkrete Verbindungsdaten (also Verkehrsdaten im Gegensatz zu Bestandsdaten), d.h. wer wann mit wem telefoniert hat oder wo sich ein Handy zu einer bestimmten Zeit befunden hat. Eine „Vorratsdatenspeicherung durch die Hintertür“ ist es also gerade nicht. Und die grundsätzliche Notwendigkeit der Bestandsdatenauskunft wird nicht in Frage gestellt. Diese Einschätzung teilt explizit auch der Bundesbeauftragte für den Datenschutz, Peter Schaar, in seiner Stellungnahme in der Anhörung des Deutschen Bundestages am 11.03.2013: „Dabei bin ich mir der grundsätzlichen Notwendigkeit der Bestandsdatenauskunft als Mittel einer effektiven Strafverfolgung durchaus bewusst“.
Ebenso sind weder Beschäftigtendaten, noch Renten-, Versicherungsdaten, Steuer- oder Gesundheitsdaten von der jetzt erfolgten TKG-Änderung erfasst. Aus § 3 Nr. 3 TKG ergibt sich nämlich eindeutig welche Daten Bestandsdaten im Sinne des Gesetzes sind. Das sind „Daten eines Teilnehmers, die für die Begründung, inhaltliche Ausgestaltung, Änderung oder Beendigung eines Vertragsverhältnisses über Telekommunikationsdienste erhoben werden“. Auch von der Definition sind keine Fluggastdaten oder Geldtransferdaten erfasst. Deshalb muss ich festhalten, dass die meisten Anmerkungen, die Sie in Ihrem Schreiben machen, mit der Sache und dem Thema TKG-Änderung nichts zu tun haben. Weder differenzieren sie nach der Art der Daten, nach dem Zweck der Erhebung und der Auskunft, noch nach der Eingriffsintensität oder der Intension des jeweiligen Gesetzes. Vielmehr werfen Sie alles unter einen Hut und mischen es dann noch einmal durch.
Zum jetzt abgestimmten Gesetzentwurf bleibt festzuhalten: Der schwarz-gelbe Regierungsentwurf adressierte ganz eng nur die Korrekturanforderungen des Verfassungsgerichts und plante lediglich eine Minimalumsetzung dessen, was man gerade noch für verfassungsrechtlich vertretbar hielt. Dies haben wir heftig kritisiert. Die SPD gießt nun mit ihren erreichten Änderungen nachträglich das rechtstaatliche Fundament unter den Rohbau des Koalitionsentwurfs zur Bestandsdatenauskunft.
Durch den von der SPD-Fraktion maßgeblich mitverantworteten Änderungsantrag im Bundestag wird der Anwendungsbereich der Bestandsdatenauskunft insgesamt klarer gefasst. In den bundesgesetzlichen Rechtsgrundlagen gibt es jetzt bei Auskünften über dynamische IP-Adressen und über Zugangssicherungscodes Benachrichtigungspflichten, bei heimlichen Auskünften auf Zugangssicherungscodes zusätzlich einen Richtervorbehalt bzw. eine Befassung der G10-Kommission. Zur weiteren Entwicklung des Standards IPv6 wurde eine Berichtspflicht der Bundesregierung festgeschrieben. Vor allem durch die jetzt aufgenommenen Benachrichtigungspflichten haben Betroffene jetzt die Gewähr, gegen ihrer Ansicht nach rechtswidrige Auskünfte effektiven Rechtsschutz in Anspruch nehmen zu können.
Für den Zugriff durch Nachrichtendienste ist - im Einklang mit der sonstigen Rechtssystematik - eine Kontrolle durch die G10-Kommission sichergestellt, die als unabhängiges und an keine Weisungen gebundenes Organ über die Zulässigkeit der durch die Nachrichtendienste des Bundes durchgeführten Beschränkungsmaßnahmen im Bereich des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses zu befinden hat. Die Behauptung mancher, dass bei einer Beschlagnahme beispielsweise eines Mobiltelefons der Richtervorbehalt entbehrlich sei, ist unzutreffend: Selbstverständlich steht bereits die Beschlagnahme selbst unter einem Richtervorbehalt. Es wurde lediglich darauf verzichtet, den Sachverhalt doppelt durch einen weiteren Richter erneut prüfen zu lassen.
Sicher kann man sich immer mehr wünschen und selbstverständlich ist es ein Kompromiss. Aber es ist ein guter und tragfähiger Kompromiss. Wenn wir uns wie Grüne und Linke auf die pauschale Ablehnung des Regierungsentwurfs der schwarz-gelben Koalition beschränkt hätten, gäbe es jetzt wohl keine einzige der vielen Verbesserungen des Gesetzes und schwarz-gelb hätte ihren Ursprungsentwurf in der Minimal-verfassungsrechtlichen Variante beschlossen. Und eine Ablehnung dieses Ursprungsentwurf im Bundesrat war unwahrscheinlich, da auch die rot-grünen Bundesländer diesen - nach unserem Kenntnisstand - mitgetragen hätten. Soviel zur Doppelmoral der Grünen: Im Bund ablehnen und nicht an einer Verbesserung mitarbeiten, auf Landesebene aber die Minimalvariante mittragen.
Unabhängig davon halte ich nicht den Staat für den größten Überwacher und Datensammler, sondern die großen Konzerne, wie Google, Facebook und Co., die - auch Dank der schwarz-gelben Bundesregierung - weiter Daten kostenfrei abgreifen können, ohne dass ersichtlich ist, was sie damit machen.
Abschließend weise ich noch die Beschimpfung “Parteioligarch“ von mir. Dieser Begriff ist negativ belastet und wird in Zusammenhang mit der KPD, der SED bzw. deren Nachfolgern verwandt und hat meines Erachtens gar nichts aber auch gar nichts mit einer Partei zu tun, die Demokratie und Freiheit selbst unter Bedrohung des eigenen Leben vor 80 Jahren bei der Abstimmung über das Ermächtigungsgesetz verteidigt hat. In diesem Zusammenhang möchte ich Sie darauf hinweisen, dass die pauschale Diffamierung der Parteien in einer unrühmlichen deutschen Tradition steht.
Mit freundlichen Grüßen
Gerold Reichenbach, MdB