Frage an Gabriele Hiller-Ohm von Wolfgang G. bezüglich Soziale Sicherung
Bundestagsdebatte 15.11.2007, Antrag der Linken - Weihnachtsgeld, Regelsatz
Frau Hiller-Ohm,
mit Interesse habe ich Ihre Argumente verfolgt.
Für die Beantwortung meiner daraus resultierenden Fragen bedanke ich mich im Voraus.
Weihnachtsgeld, pauschalisiert im Regelsatz eingeflossen:
In welcher der mir bekannten konkreten Kalkulationspositionen des Regelsatzes ist das von Ihnen angesprochene Weihnachtsgeld pauschalisiert eingearbeitet.? Und in welcher Höhe?
Was empfehlen Sie einer Familie zu Weihnachten, die armutsbedingt nicht in der Lage ist, ihren 2 Kindern etwas kaufen zu können, und die dennoch ein Fest der Familie in Würde und Freude erleben möchte?
Regelsatzerhöhung auf 435 € (Forderung der Linken):
Ihre Alternativlösung liegt in der Stärkung der sozialen Infrastruktur. Welche Chancen und Perspektiven der Aus- und Weiterbildung für über 50jährige ALGII Bezieher sehen Sie, ausgehend von den Handlungsvorschriften der Argen? Ist die flächendeckende Abdeckung der Tafeln Ihrer Meinung nach eine alternativlose Form der Entwicklung der sozialen Infrastruktur, zur Verbesserung der Lage der Ärmsten?
Verfassung, Menschenwürde:
Glauben Sie, dass Sie im Wissen um einen durch Inflation und Preisanstieg bedingten (nicht zu bestreitenden) zu geringen Regelsatz um derzeit 20.- € Ihrem verfassungsmäßigen Auftrag der Wahrung der Menschenwürde der Betroffenen gerecht werden, in dem Sie mit Ihrer Argumentation nicht um eine schnelle Abhilfe streiten, sondern um ein anzustrebendes Gesamtkonzept auch der Überarbeitung des Regelsatzes in Perspektive?
Bei dieser Frage geht es mir um Ihre Grundeinstellung bzw. -Haltung in der Sache und keinesfalls um die Frage der Finanzierbarkeit oder der Realpolitik.
Mit freundlichen Grüßen
und in Vorfreude eines sinnlichen und geschenkreichen Weihnachten.
W. Galle
Sehr geehrter Herr Galle,
die Regelsätze wurden im Zuge der Sozialreformen 2003-2005 von 295 Euro im Westen und 281 Euro im Osten auf 345 Euro im Westen und 331 Euro im Osten angehoben. In diesen erhöhten Betrag ist unter anderem die vorher extra gezahlte Weihnachtsbeihilfe eingeflossen. Vergessen wurden zunächst die Sozialhilfeempfänger im Heim. Diese Rechtslücke wurde 2006 auf mein Drängen hin wieder geschlossen. Der Barbetrag für Heimbewohner wurde in der Folge ebenfalls pauschal erhöht.
In der weit reichenden Pauschalierung der Bedarfe liegt ein wesentlicher Unterschied zum vorherigen Bundessozialhilfegesetz. Die Trennung in laufende Leistungen in Form der Regelsatzleistungen und in sogenannte einmalige Leistungen, die nur bei dem Vorliegen besonderer Bedarfssituationen – in der Regel für Kleidung und die Anschaffung bspw. von Küchengeräten oder Möbeln, aber auch für besondere Anlässe, wie beispielsweise die Weihnachtsbeihilfe – gewährt wurden, ist im heutigen Sozialgesetzbuch XII aufgegeben worden. Deshalb sind die früher zusätzlich zur Regelsatzleistung gezahlten einmaligen Leistungen in pauschalierter Form in die Regelsätze mit einbezogen. Für die Leistungsberechtigten bedeutet dies eine größere wirtschaftliche Selbständigkeit, gleichzeitig aber auch mehr Verantwortung, da sie über ein höheres monatliches „Budget“ als früher selbst verfügen können. Dies hat zur Folge, dass Leistungsberechtigte eine höhere Eigenverantwortung in Form der eigenen Entscheidung über die Verwendung dieser Mittel eingeräumt wird, als dies nach dem vorherigen System aus Regelsatz und einmaligen Leistungen der Fall war.
Im Moment gibt es Diskussionen darüber, ob der aktuelle Zahlbetrag von 347 Euro plus Miete und Energie angesichts der Preissteigerungsraten der letzten Jahre noch angemessen ist. Ich bin der Meinung, dass eine Anpassung an Preissteigerungen sinnvoll ist und dass der Berechnungsmodus genauer werden muss.
Gemeinsam mit dem Bundessozialministerium wollen wir die Festlegung der Regelsätze über die Einkommen- und Verbrauchsstichprobe überarbeiten. Zurzeit erfolgt eine Festlegung des Regelsatzes alle fünf Jahre. Während dieses Zeitraums ist der Regelsatz an die Entwicklung der Renten gekoppelt. Steigen die Renten, so erhöht sich entsprechend auch der Regelsatz. Leider steigen die Renten nicht in gleichem Maße wie die Preisentwicklung. Deshalb wird überlegt, den Zeitraum zur Festlegung des Regelsatzes von fünf auf drei Jahre zu verkürzen. Dies wäre ein deutlicher Fortschritt, um die Regelsätze stärker an die Preisrealität in Deutschland anzupassen!
Im Hinblick auf die besondere Situation von Kindern befürworte ich auch die Einführung eines eigenen „Kinderregelsatzes“. Dabei könnte die Erstellung einer nach Alter differenzierten Regelsatztabelle das Ziel sein.
Analog zum Sozialgesetzbuch XII (Sozialhilfe für Nichterwerbsfähige) plädiere ich dafür, eine Öffnungsklausel für Härtefälle in das Sozialgesetzbuch II (Arbeitslosengeld II) aufzunehmen. Mit einer solchen Klausel sollte denjenigen, die mit den aktuell 347 Euro plus Wohn- und Heizkosten nicht hinkommen, ermöglicht werden, in Härtefällen Beihilfen zu bekommen. Derzeit sind im Arbeitslosengeld II lediglich zurückzahlungspflichtige Darlehen vorgesehen und selbst diese werden zum Teil nur restriktiv vergeben.
Zu Ihrer Frage nach der sozialen Infrastruktur: Ich bin der Meinung, dass Arbeitsvermittlungsmaßnahmen, Weiterbildungen oder auch öffentlich geförderte Beschäftigung einem Arbeitssuchenden häufig mehr bringt als pauschal 20 Euro mehr im Monat. Der Wiedereinstieg in ein Arbeitsleben mit all seinen integrierenden Faktoren ist ein zentrales Ziel unserer Arbeitsmarktpolitik. Wir wollen Menschen nicht stilllegen, wie es etwa die Folge eines immer wieder geforderten "bedingungslosen Grundeinkommens" wäre, sondern fördern und aktivieren.
Natürlich ist in diesem Zusammenhang eine bundesweite Ausweitung der Tafeln nicht die Antwort auf die Armutsprobleme in unserem Land. Ich respektiere den großartigen ehrenamtlichen Einsatz der Tafel-Macher, aber unser Ziel muss es sein, dass die Menschen sich selbst versorgen können.
Deshalb habe ich nichts gegen angemessene Erhöhungen des individuellen finanziellen Betrages, halte aber infrastrukturelle Fragen für genauso wichtig.
Insbesondere für Kinder, da über infrastrukturelle Maßnahmen noch besser garantiert werden kann, dass die Hilfe auch ankommt.
Dazu gehört unter anderem:
Der Ausbau von Eltern-Kind-Zentren: Kindertageseinrichtungen müssen ihren Bildungs- und Betreuungsauftrag erweitern, indem sie als Anlaufstelle auch ein umfangreiches Beratungs- und Hilfsangebot für Eltern bereithalten. Der Ausbau von Kindertagesstätten zu Eltern-Kind-Zentren sollte nachhaltig gefördert werden, damit ein flächendeckendes und ortsnahes Beratungsnetzwerk entstehen kann. Hierzu ist es unerlässlich, den Qualifikationsanspruch an Erzieherinnen und Erzieher zu erhöhen und mehr Mittel in ihre Aus- und Weiterbildung zu investieren.
Gesundes Essen in Schule und Kindertagesstätte: Kinder, die bereits hungrig ihren Tag beginnen, sind leider traurige Realität. Mangelnde und falsche Ernährung behindert dabei nicht nur die konzentrierte Teilnahme am Unterricht, sondern stellt vor allem eine Gefährdung für die gesundheitliche Entwicklung der Kinder dar. Auch hier sind alle politischen Ebenen gemeinsam in der Pflicht.
Kostenlose Schulbücher und Teilnahme an Schul- und Bildungsveranstaltungen: Die Gewährung gleicher Bildungschancen setzt einen freien Zugang zu Lernmitteln, Bildungsmaterialien und -angeboten voraus. Zusammen mit Ländern und Gemeinden sollte der Bund ein Modell entwickeln, das den notwendigen Bedarf für eine gerechte Teilhabe und Förderung abdeckt.
Die SPD fordert also ein schlüssiges Gesamtkonzept aus Regelsatzanpassung und verbesserter Infrastruktur. Gemeinsam mit dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales arbeiten wir auch an bereits kurzfristig spürbaren Verbesserungen. Diese dürfen aber eben nicht den Spielraum nehmen, um auch langfristige Verbesserungen anzugehen.
Mit freundlichen Grüßen
Gabriele Hiller-Ohm