Frage an Fritz Kuhn von Leonie E. bezüglich Recht
Sehr geehrter Herr Kuhn,
in Gemeinschaftskunde, 10. Klasse, sind wir bei der Frage "Sind Abgeordnete nur ihrem Gewissen verpflichtet?" ins Stocken gekommen.
Schließlich sind wir uns eingig geworden, dass obwohl das Grundgesetz die Gewissensfreiheit garantiert die Fraktionsdisziplin in der politischen Praxis dominiert.
Wir würden die deshalb um ihre perönliche Stellungnahme zum Spannungsverhältnis von Gewissensfreiheit und Fraktionsdisziplin bitten.
Vielen Dank bereits im Voraus
Mit freundlichen Grüßen
Klasse 10 b, Carl-Benz-Gymnasium, Ladenburg
Liebe Klasse 10b,
Bei dieser Frage geraten nicht nur Schulklassen ins Stocken. Uns in der Politik geht es da ähnlich. An der Gewissensfreiheit für Abgeordnete reiben wir uns ziemlich oft. Das ist eine der Fragen, die sich nicht nur mit schwarz und weiß beantworten lässt. Als Vorsitzender einer Fraktion, der den Laden zusammenhalten und zugleich für meine eigenen Rechte und die der Kolleginnen und Kollegen kämpfen muss, weiß ich, wovon die Rede ist. Im Volksmund ist häufig vom „freien Mandat“ die Rede. Schauen wir uns aber mal die Lage genauer an. Maßstab ist wie so oft unser Grundgesetz. In Artikel 38 Absatz 1 heißt es dort: „Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages (…) sind Vertreter des ganzen Volkes an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen.“ Die Abgeordneten sind dem Grundgesetz zufolge nicht ihrer Partei, auch nicht allein ihrem Wahlkreis, sondern der Gesamtheit des Volkes verpflichtet. Dennoch ist es so, dass bis auf ganz wenige Ausnahmen, Abgeordnete nur für eine bestimmte Partei auftreten. Sie haben sich für deren Programm ausgesprochen und sie wurden auch unter der Vorgabe gewählt, sich für dessen Umsetzung stark zu machen. Schon an dieser Stelle sehen wir, dass sich ein Widerspruch auftut. Eine Partei kann möglicherweise fordern, was von der großen Mehrheit der Bevölkerung abgelehnt wird, oder sogar gegen deren Interessen verstößt. Was soll der Abgeordnete also tun?
Es ist im parlamentarischen Alltag nicht immer einfach, sich auf sein Gewissen zu berufen. Das Gewissen, das heißt der Kern der politischen Überzeugungen, ist weder begründungsbedürftig noch ist es gerichtlich überprüfbar. Man braucht eben das nötige Rückgrad, um zu seinen Überzeugungen zu stehen. Als Abgeordnete sind wir dahingehend auch geschützt. Das Strafgesetzbuch verbietet ausdrücklich, uns zu nötigen (§ 106) oder zu bestechen (§ 108). Dennoch kommt es immer auf den einzelnen Abgeordneten an, ob er „weich wird“ oder zu seinen Überzeugungen steht und für deren Durchsetzung eintritt, ohne den eigenen Vorteil in den Mittelpunkt zu stellen. Als Vorsitzender einer Fraktion muss ich aber auch etwas Wasser in den Wein gießen. So wichtig und richtig es ist, die Gewissenfreiheit hoch zu halten, eine Bundestagsfraktion muss auch arbeiten können. Wir müssen uns auch untereinander vertrauen und geschlossen handeln können. Das gilt gerade dann, wenn man in der Regierung ist. Die Öffentlichkeit erwartet hier auch Verlässlichkeit und die Bereitschaft, Absprachen einzuhalten. Da bewegen wir uns in einem äußerst schwierigen Spannungsfeld zur Gewissensfreiheit. Ich halte aber auch nichts davon, diese Konfliktlage einfach zu übergehen und totzuschweigen. Gerade die Öffentlichkeit erwartet Berechenbarkeit. Manchmal habe ich den Eindruck, dass gerade diejenigen, die am heftigsten für die Gewissensfreiheit der einzelnen Abgeordneten eintreten, bei einem unterschiedlichen Abstimmungsverhalten innerhalb der Fraktion der Partei die Politikfähigkeit absprechen.
Mit freundlichen Grüßen,
Fritz Kuhn