Frage an Fritz Kuhn von Esther W. bezüglich Außenpolitik und internationale Beziehungen
Hallo Herr Kuhn,
wie stehen Sie zu dem Kampfeinsatz deutscher Soldaten in Nord-Afghanistan, dem Sie zugestimmt haben?
Ging der jetzige Einsatz von KAMPFTRUPPEN aus den Ihnen vorliegenden Akten hervor, die Ihnen vor der Abstimmung im Bundestag zur Verfügung standen?
Wie schätzen Sie angesichts Ihres Abstimmungsergebnisses zu diesem Thema das Votum Ihrer Partei-Basis ein? Zählt diese für Sie überhaupt - sofern es nicht gerade um Ihre innerparteiliche Wieder-Wahl geht?
Pazifistische Grüße
Esther Wellhöfer
Sehr geehrte Frau Wellhöfer,
vielen Dank für Ihr Interesse an dem Thema: Verlängerung des Afghanistan-Einsatzes. Ich möchte die Gelegenheit nutzen, Ihnen meine Position darzulegen. Unsere Partei, Bündnis 90/Die Grünen hat intensiv über "Afghanistan" diskutiert, das Für und Wider eines militärischen Einsatzes in Afghanistan auf einem Sonderparteitag öffentlich zur Abstimmung zu stellen und somit gezeigt, dass wir an einer differenzierten und verantwortungsbewussten Politik interessiert sind. Dieses Thema ist sehr komplex, aus diesem Grund bitte ich um Ihr Verständnis wenn ich es etwas ausführlicher darlege.
Wir, Bündnis 90/Die Grünen haben unmissverständlich festgestellt:
- Ein Abzug der Sicherheitsunterstützung durch ISAF und die Bundeswehr ist für uns derzeit keine verantwortbare Option.
-Die Bundesregierung verfolgt mit ihrem Festhalten an der Operation Enduring Freedom (OEF) einen falschen Kurs und setzt mit den TORNADOs einen falschen Schwerpunkt.
-Der zivile und polizeiliche Aufbauprozess, der den Kern des deutschen und internationalen Engagements ausmachen müsste, wird sträflichst vernachlässigt.
In der Summe wird durch die Politik der Bundesregierung eine erfolgreiche Stabilisierung eher gefährdet. Sie hatte beantragt die Mandate für den ISAF-Einsatz und den Einsatz der TORNADO-Aufklärungsflugzeuge zusammen zu legen und zu verlängern. Deshalb empfahl der Sonderparteitag den Abgeordneten, einer Verlängerung des Bundeswehrmandats am 12.10.2007 nicht zuzustimmen. Die Mehrheit meiner Partei entschied sich für ISAF aber gegen den Einsatz der Tornados, weil dieser in einem engen Kontext zur OEF steht.
Wir sind der festen Überzeugung, dass es Zeit für einen Strategiewechsel ist. Ziel aller Anstrengungen muss die Stärkung der afghanischen Eigeninitiative sein, Regierungsführung und Rechtsstaatlichkeit auszubauen, die wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungen und eine umfassende Sicherheitsstrategie zum Schutze der Zivilbevölkerung zu unterstützen. Erlauben Sie mir, dass ich auf einzelne Punkte etwas näher eingehe:
1. Bündnis 90/Die Grünen lehnen einen Abzug der ISAF-Truppen gegenwärtig ab. Grundsätzlich gilt: So lange der zivile Wiederaufbau nicht durch afghanische Sicherheitskräfte abgesichert werden kann, so lange ist der Abzug der deutschen Bundeswehreinheiten nicht vertretbar. Ein Rückzug würde den Norden destabilisieren und auf ganz Afghanistan ausstrahlen. Er hätte Signalwirkung für andere Nationen und Organisationen. Ebenso wichtig ist die Legitimation und Akzeptanz. Unsere militärische Unterstützung ist nicht nur von der Regierung erwünscht und den Vereinten Nationen legitimiert; sie wird auch von der Mehrheit der Afghaninnen und Afghanen weiterhin gewünscht. Trotz ihrer Distanz zur Bundeswehr unterstützen auch die meisten zivilen Hilfsorganisationen eine internationale Sicherheitspräsenz der ISAF und v.a. der deutschen Truppen.
2. Anders verhalten wir uns zum Einsatz der Operation Enduring Freedom. OEF- und ISAF-Truppen haben unterschiedliche Mandate, Rechtsgrundlagen und Befehlsstränge, sind äußerlich aber nicht unterscheidbar. Vor Ort unterstützen sie sich oft gegenseitig. Es spricht vieles dafür, dass viele Zwischenfälle v.a. auf das Konto der OEF-Kräfte gehen. Zwei Militäroperationen im gleichen Operationsgebiet sind kontraproduktiv. Deshalb haben wir bereits im vergangenen Jahr eine Verlängerung des OEF-Mandats abgelehnt. Wir sind der Auffassung, dass diese Anti-Terroroperation im Herbst 2006 ihre Sonderberechtigung verloren hat. Damals hat ISAF die Verantwortung für die Sicherheitsunterstützung der Regierung in ganz Afghanistan übernommen. Die große Mehrzahl der ca. 8.000 OEF-Truppen betätigt sich als Ausbilder afghanischer Sicherheitskräfte. Diese Aufgaben können sie auch unter dem Dach und der Kontrolle von ISAF erfüllen. Mit der Beendigung von OEF verknüpfen wir die Erwartung, dass eine Änderung der militärischen Vorgehensweise – z. B. über den NATO-Rat oder die UN – aussichtsreicher wird.
3. Weitere Schlüsselfelder zum Wiederaufbau und zur Stabilisierung Afghanistans liegen in der Drogenbekämpfung, der Demilitarisierung und Entwaffnung illegaler Milizen und im Aufbau von Militär, Polizei und Justiz. Wir brauchen eine anders gewichtete, zivilere und polizeilichere Architektur zur Krisenprävention und zur internationalen Friedenssicherung. Dass die Bundesregierung für den Aufbau der afghanischen Polizei die EU als Schlüsselpartner gewinnen konnte, ist grundsätzlich richtig. Allerdings sind die knapp 200 Polizeibeamten zu wenige, um landesweit Polizeikräfte ausbilden zu können. Die zarten Pflänzchen, die unter grüner Regierungsbeteiligung entstanden sind, sind unter der großen Koalition verdorrt. Seit Beginn des internationalen Engagements in Afghanistan war der Polizei- und Justizaufbau eine zentrale Säule der Afghanistanpolitik. Der Aufbau einer funktionsfähigen Polizei und Justiz ist eine der Kernvoraussetzung, um von extern gestützter Sicherheit zu selbsttragenden Sicherheitsstrukturen zu kommen. Vom Ziel einer durchsetzungsfähigen und respektierten Polizei ist Afghanistan jedoch noch weit entfernt: ihre Besoldung ist unzureichend, die Korruption nach wie vor hoch. Eine bessere Ausstattung im Bereich Polizeiausbildung, eine massive personelle Aufstockung und die Behebung struktureller Probleme bei der Rekrutierung sind Grundvoraussetzungen für eine Verbesserung der Ausbildung.
4. ISAF ist keine Besatzungsmacht und die Vereinten Nationen keine Ersatzregierung. Wir sind der Auffassung, dass die Afghaninnen und Afghanen selbst viel mehr Verantwortung und Eigeninitiative zeigen müssen. Nur sie können den innergesellschaftlichen Versöhnungs- und Aufbauprozess so gestalten, dass er nach einem Abzug der internationalen Staatengemeinschaft trägt. Dies gilt für Parlament und Zivilgesellschaft, aber insbesondere für die Zentralregierung, die in manchen Bereichen Teil des Problems ist. Die Vielzahl der internationalen Institutionen und Hilfsorganisationen können nur unterstützen. Art und der Umfang, wie die zivile Hilfe geleistet wird ist – gelinde gesagt – suboptimal. Wir brauchen nicht nur einen militärischen, sondern auch einen zivilen Kurswechsel. Das ist auch, aber nicht nur, eine Frage des Geldes. Wenn Deutschland im nächsten Jahr seine Hilfe verdoppeln würde und sich danach zum Ziel setzt, mindestens ebenso viel in den zivilen und polizeilichen Bereich zu investieren, wie in den militärischen, wäre schon viel getan. Aber insgesamt brauchen wir eine bessere nationale und internationale Koordinierung und Schwerpunktsetzung. Die Hilfe muss bei den Afghaninnen und Afghanen und nicht vorrangig bei den Hilfsorganisationen und Geberländern ankommen.
Die Bündnisgrünen haben sich lange vor dem Sturz der Taliban für die Menschen in Afghanistan engagiert. Wir haben nach 2001 mit dazu beigetragen, dass mit den Petersberg-Konferenzen die Entwicklung in Afghanistan auf ein militärisch abgesichertes, aber primär politisches und ziviles Gleis gesetzt wurde. Dieser Politik fühlen wir uns nach wie vor verpflichtet. Ich hoffe, aus dieser Darstellung wurde deutlich, auf welchen unterschiedlichen Ebenen wir uns für ein Afghanistan-Engagement einsetzen, jedoch vorrangig mit zivilem und polizeilichem Charakter, das den Menschen in Afghanistan dient und das internationale Institutionen wie die Vereinten Nationen bei der Wahrnehmung kollektiver Friedenssicherungsaufgaben unterstützt und stärkt. Wir würden uns freuen, wenn wir bei dieser Politik auch mit Ihrer Unterstützung rechnen dürften.
Mit freundlichen Grüßen
Fritz Kuhn