Frage an Fritz Kuhn von Inge R. bezüglich Soziale Sicherung
Sehr geehrter Herr Kuhn,
als Mutter einer erwachsenen schwerstbehinderten Tochter bitte ich Sie um eine Stellungnahme zu der aktuell geplanten Regelbedarfsstufe 3, welche laut Gesetzentwurf der Bundesregierung für Menschen mit Behinderung lediglich 80 % des Bedarfs von erwachsenen Leistungsberechtigten ohne Behinderung vorsieht.
Das BSG hat in seinem Urteil B 8 SO 8/08 R vom 19.05.2009 bereits festgestellt: "Dies wäre jedoch mit dem allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs 1 GG nicht vereinbar, weil bezogen auf die Minderung des Regelsatzes bzw der Regelleistung wegen Annahme einer Haushaltsersparnis zwischen der Personengruppe der SGB-XII- und SGB-II-Leistungsempfänger keine sachlichen Gründe für eine unterschiedliche Behandlung erkennbar sind."
Diese geplante Kürzung des Regelsatzes ist also diskriminierend und somit verfassungswidrig.
Nachdem Sie im Vermittlungsausschuss zu der so genannten Hartz-IV-Reform mitarbeiten, würde ich gerne wissen, sie Sie Eltern von erwachsenen Kindern mit Behinderung jetzt unterstützen sollen, damit diese nicht gezwungen werden, die Rechte ihrer erwachsenen Töchter und Söhne vor dem Sozialgericht einzuklagen?
Mit freundlichen Grüßen
Inge Rosenberger
Sehr geehrte Frau Rosenberger,
vielen Dank für Ihre Frage. Lassen Sie mich zuerst ein paar Sätze zu den Verhandlungen sagen: Wir Grüne haben sehr intensiv an den Verhandlungen teilgenommen und für Verbesserungen gestritten, auch in Bezug auf das von Ihnen angesprochene Problem. Am Ende haben wir dem zwischen Regierung und SPD vereinbarten Kompromiss nicht zustimmen können (eine ausführliche Begründung dafür können Sie in meiner Rede im Deutschen Bundestag nachlesen (http://www.fritz-kuhn.de/de/start/aktuelles/110225_RedeBT_HartzIV.shtml). Der Hauptgrund war, dass Schwarz-Gelb mit seiner kategorischen Blockadehaltung einen verfassungskonformen Regelsatz verweigert hat. Die neuen Regelsätze sind intransparent und wir halten sie für verfassungswidrig. Viele Sachverständige sind der Ansicht: In der Summe verletzt die Bundesregierung die Vorgaben aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts. Sie hat die Referenzgruppe zur Ermittlung des Regelsatzes verkleinert und damit künstlich ärmer gemacht. Sie rechnet die "Aufstocker" und "verdeckt Armen" nicht aus der Referenzgruppe heraus und macht diese damit noch mal ärmer. Viele der Ausgaben, welche die Referenzgruppe tatsächlich hat, werden zudem nicht angerechnet, weil sie laut Bundesregierung nicht zum Existenzminimum gehören – z.B. der gelegentliche Besuch einer Eisdiele, den sich auch ärmere Haushalte gönnen. Aber auch viele weitere Einzelposten hat die Regierung gestrichen oder gekürzt. Damit wird der so genannte "interne Ausgleich" (die Möglichkeit, höhere Ausgaben in einem Bereich durch niedrigere Ausgaben in einem anderen aufzufangen) ganz erheblich erschwert.
Die Regierung hat die Erhöhung um 5 Euro vollzogen. Wir Grüne haben in der Endphase der Verhandlungen als letzte Kompromisslinie vorgeschlagen, dass der Regelsatz zusätzlich um weitere 6 Euro steigt, dies wären also insgesamt 11 Euro Regelsatzerhöhung gewesen. Die zusätzlichen sechs Euro ergeben sich, wenn man zumindest die „Aufstocker“ mit geringem Erwerbseinkommen (bis 100 Euro) aus den Berechnungen herausgenommen hätte. Wir haben auch an anderen Stellen verfassungsrechtliche Bedenken. Aber wir haben uns auf diesen Punkt konzentriert, da dies aus der Sicht vieler Sachverständiger verfassungsrechtlich die absolute Untergrenze wäre. Zudem haben wir immer anerkannt, dass man in Vermittlungsverfahren mitunter auch unangenehme Kompromisse machen muss. Die Herausrechnung der „Aufstocker bis 100 Euro“ ist für uns auch politisch die absolute Schmerzgrenze gewesen. Aber nicht einmal auf diesen kleinen Schritt hat sich die Regierung einlassen wollen, sondern unseren Vorschlag blockiert.
Nun zu ihrem konkreten Problem: Auch ich bin der Ansicht, dass es keine Gründe für eine unterschiedliche Behandlung gibt. Die 80 Prozent des Regelsatzes für Menschen mit Behinderungen sind frei gegriffen. Hier besteht das Problem, dass die Bedarfe für Menschen mit Behinderung empirisch nicht genügend ausgeleuchtet sind, um einen Regelsatz ermitteln zu können, der im Einklang mit den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts steht. Ich habe in den Verhandlungen mein möglichstes versucht, um einen verfassungsfesten Regelsatz festzulegen. Die Koalition und die SPD haben sich leider dagegen entschieden. Auch uns wäre es viel lieber gewesen, wenn man weitere Gerichtsverfahren hätte vermeiden können. Doch zu einem entsprechenden Entgegenkommen war die Regierung nicht bereit. Nun werden wohl leider wieder die Gerichte arbeiten müssen. Dabei halte ich es für wahrscheinlich, dass Sie mit einer Klage erfolgreich sind.
Mit freundlichen Grüßen,
Fritz Kuhn