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Fritz Kuhn
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Frage von Juergen E. •

Frage an Fritz Kuhn von Juergen E. bezüglich Außenpolitik und internationale Beziehungen

Sehr geehrter Herr Kuhn.

Wie ist die Einstellung der Gruenen zum Afganistan Einsatz?

Was tun Sie dafuer, dass Deutschland sich endlich aus Afganistan zurueck zieht?

Gruss
Juergen Engert

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Antwort von
Bündnis 90/Die Grünen

Sehr geehrter Herr Engert,

vielen Dank für Ihre Fragen zur Lage in Afghanistan und zum Einsatz der Bundeswehr. Mit vielen Menschen teilen wir die Sorge um die weitere Entwicklung in Afghanistan. Als Partei, die für Gewaltfreiheit und den Schutz der Menschenrechte und des Friedens eintritt, haben wir uns mit dem Einsatz in Afghanistan und mit einfachen Antworten immer schwer getan..
Die grüne Bundestagsfraktion hat die Kritik und ihre Forderungen zum Afghanistaneinsatz immer wieder in Anträgen im Bundestag dargelegt ( http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/17/008/1700818.pdf ). Die Mehrheit der 68 grünen Abgeordneten hat die Konsequenz gezogen und sich bei der Abstimmung im Februar 2010 über das aktuelle ISAF-Mandat im Bundestag enthalten (35 Enthaltungen, 21 Nein-Stimmen, 8 Ja-Stimmen). Damit bringen wir zum Ausdruck, dass wir zu unserer Verantwortung stehen und einen Sofortabzug ablehnen, dass wir aber zugleich die derzeitige Afghanistan-Politik der Bundesregierung in zentralen Bereichen nicht mittragen können. Eine derart wichtige Entscheidung ist immer eine persönliche Gewissensentscheidung der bzw. des einzelnen Abgeordneten. Deshalb haben einige Mitglieder der Fraktion, auch wenn sie grundsätzlich die Argumentation der Fraktion unterstützen, sich nicht enthalten, sondern mit Ja oder Nein gestimmt.
Keine Partei hat sich so intensiv, so kritisch und so konstruktiv mit dem Militäreinsatz in Afghanistan auseinandergesetzt wie die Grünen. Grüne Abgeordnete waren und sind immer wieder vor Ort, um sich persönlich über Probleme und Fortschritte zu informieren. Wir haben - im Gegensatz zur Bundesregierung - frühzeitig Fehler und Defizite benannt, unsere Analysen und Berichte der Öffentlichkeit zugänglich gemacht und uns der Diskussion gestellt. Die zahlreichen Fehler und Defizite bei der Umsetzung der zivilen und militärischen Ziele haben unsere Bereitschaft, den ISAF-Einsatz mitzutragen, in den vergangenen Jahren immer wieder belastet.
Wir stehen gleichwohl grundsätzlich zu der Verantwortung, die die internationale Staatengemeinschaft 2001 nach dem Sturz des Taliban-Regimes für den Wiederaufbau und die Stabilisierung Afghanistans übernommen hat. Die internationale Gemeinschaft ist unter dem Mandat der Vereinten Nationen und auf Wunsch der afghanischen Regierung im Lande engagiert. Ein sofortiger oder überhasteter Abzug würde zulasten der Zivilgesellschaft und der Schwächsten gehen. Ein solcher Abzug wäre nicht die Voraussetzung für eine friedliche Entwicklung, sondern deren Ende. Ohne eine internationale Sicherheitspräsenz würde Afghanistan ungehemmt in Gewalt und Repression versinken.
Die Lage in Afghanistan ist weiterhin unübersichtlich und besorgniserregend. Der Stabilisierungseinsatz befindet sich in einer kritischen Phase - mit offenem Ausgang. Die Sicherheitslage hat sich in großen Teilen des Landes, nicht nur im Süden und Osten, sondern auch im Norden sowie in Pakistan weiter verschlechtert. Es gibt auch im Einsatzbereich der Bundeswehr Distrikte und Provinzen, in denen die Angriffe militanter oppositioneller Kräfte kriegerisches Niveau erreicht haben. Die erzielten Fortschritte beim Wiederaufbau sind in einigen Regionen gefährdet. Die von massiver Manipulation gekennzeichnete afghanische Präsidentschaftswahl 2009, anhaltend hohe Korruption und Vetternwirtschaft sind für den politischen Prozess und die Akzeptanz des Einsatzes eine große Belastung.
Trotzdem gibt es weiterhin auch Erfolge: Unter deutscher Verantwortung konnte die Infrastruktur im Norden Afghanistans deutlich ausgebaut werden. Der Opiumanbau wurde weiter reduziert, im Vergleich zu 2008 um 22 Prozent. Mehr als die Hälfte aller Provinzen sind bereits opiumfrei. In Kabul liegt seit Mai 2009 die Hauptverantwortung für die Sicherheit in afghanischen Händen. Die Übertragung der Verantwortung in anderen Provinzen steht in den nächsten Monaten bevor. Viele wichtige Rahmendaten haben sich seit Beginn der internationalen Mission gebessert: Besonders die medizinische Versorgung und das Bildungssystem haben große Fortschritte gemacht. Konnten 2001 weniger als eine Million Kinder und Jugendliche die Schule besuchen, sind es 2009 über sechs Millionen, Tendenz steigend. Es gibt in Afghanistan heute ein fast flächendeckendes Mobilfunknetz. Dies sind Zeichen für den Beginn einer Besserung der wirtschaftlichen Lage, die eine fundamentale Voraussetzung für eine Stabilität Afghanistans darstellt. Und auch die Lage der Frauen hat sich seit Beginn des Einsatzes grundlegend gewandelt. Frauen bekleiden heute Posten in Politik und Verwaltung, und ein großer Teil der Mädchen besucht zumindest die Grundschule. Dies alles zeigt, dass man nicht von einem grundsätzlichen Scheitern des Einsatzes sprechen kann. Einiges ist auch gut und besser geworden in Afghanistan.
In vielen Bereichen ist aber die Hilfe noch nicht angekommen. Häufig fehlen funktionierende krisenfeste Strukturen. Es ist daher deutlicher als je zuvor, dass die militärische Mission ohne eine Behebung der massiven Defizite beim zivilen Aufbau in letzter Konsequenz erfolglos ist.

Eine dauerhafte Lösung der Probleme ist nur durch die Stärkung der staatlichen und zivilgesellschaftlichen Institutionen sowie durch wirtschaftliche Perspektiven für die afghanische Bevölkerung zu erreichen. Ohne eine stärkere Verantwortung der Afghaninnen und Afghanen, ohne ein umsichtiges militärisches Auftreten, das den Schutz der Menschen in den Mittelpunkt stellt, und nicht zuletzt ohne eine unverzügliche radikale zivile Aufbauoffensive in der Fläche wird der Einsatz aussichts- und damit verantwortungslos. Bei den Führern der Taliban und der Aufständischen müssen diejenigen identifiziert werden, die Interesse an ihrem Land und an ihren Leuten haben. Mit ihnen muss verhandelt werden. Das ist schwierig und es gibt auch dafür keine Erfolgsgarantie.

Für uns gilt: Wenn der Einsatz in Afghanistan nicht scheitern soll, müssen die internationale Gemeinschaft und ihre afghanischen Bündnispartner jetzt gemeinsam vor allem den zivilen Aufbau verstärken, eine Abzugsperspektive mit einem konkreten Abzugsplan entwickeln und die internationalen Truppen schrittweise abziehen. Um überhaupt eine sich selbst tragende Entwicklung zu erreichen, sind ein intensiver Aufbauprozess und ein innerafghanischer Versöhnungsprozess notwendig. Wird diese Chance für einen Kurswechsel versäumt, dann wird die Afghanistan-Politik der internationalen Gemeinschaft nicht erfolgreich sein.

Mit freundlichen Grüßen

Fritz Kuhn