Frage an Evelyne Gebhardt von Thorsten J. bezüglich Europapolitik und Europäische Union
Sehr geehrte Frau Gebhard,
nach dem Nein der Iren zu dem Lissabon-Vertrag haben Sie gesagt, dass die Ratifizierung fortgeführt werden solle und dass die Iren nicht für 495 Million Europäer entscheiden sollten.
Der Vorläufer zum Lissabon-Vertrag war die EU-Verfassung, die durch 2 Referenden abgelehnt wurde. Zur Entstehung der EU-Verfassung hat Jean-Claude Juncker (luxemburg. Regierungschef) Folgendes geäußert: "Ich habe noch nie eine derartige Untransparenz, eine völlig undurchsichtige, sich dem demokratischen Wettbewerb der Ideen im Vorfeld der Formulierung entziehende Veranstaltung erlebt. Der Konvent ist angekündigt worden als die große Demokratie-Show. Ich habe noch keine dunklere Dunkelkammer gesehen als den Konvent." (Quelle: Der Spiegel, 16. Juni 2003)
Der Lissabon-Vertrag setzt auf der EU-Verfassung auf und ist in vielen Bereichen deckungsgleich. Das haben auch führende Europa-Politiker bestätigt:
Angela Merkel, Telegraph, 29.06.2007: "Die Substanz der Verfassung ist erhalten. Das ist ein Fakt."
Ich habe aufgrund Ihrer Äußerungen und Ihrer Zustimmung zum Lissabon-Vertrag 4 konkrete Fragen an Ihr Verständnis von Demokratie:
1. Sind die Politiker für die Bürger da oder sind die Bürger für die Politiker da?
2. Die EU-Verfassung wurde in 2 Referenden abgelehnt. Der Lissabon-Vertrag, der nach Aussage von Angela Merkel in der Substanz der EU-Verfassung entspricht, wurde von den Iren abgelehnt. Was muss aus Ihrem demokratischen Verständnis heraus passieren, dass Sie ein Nein akzeptieren?
3. Halten Sie es für demokratisch, dass nach dem Nein der Iren zum Vertrag von Lissabon das Ergebnis einfach nicht akzeptiert wird und die Iren deshalb erneut darüber abstimmen müssen?
4. Wieso haben Sie sich nicht effektiv dafür eingesetzt, dass auch in Deutschland ein Referendum stattfindet, damit 80 Millionen Deutsche für sich selbst sprechen können?
MfG
Thorsten
Sehr geehrter Herr Jakubowski,
Der Lissabon-Vertrag ist das Ergebnis einer 7 Jahre andauernden Verhandlung, der mit dem Europäischen Konvent 2001 ("Erklärung von Laeken") begann. In diesem Konvent waren nicht nur Vertreter und Vertreterinnen des Europäischen Parlaments, der nationalen und regionalen Parlamente (aus Deutschland waren es Abgeordnete aus dem Bundestag und Vertreter der Bundesländer) und der Regierungen, sondern auch durch zahlreiche Anhörungen Vertreter und Vertreterinnen der Zivilgesellschaft beteiligt.
Der über 17 Monate öffentlich tagende Konvent (bis zu 100.000 Personen verfolgten monatlich die Debatten, in einer Anhörungsphase zu Beginn wurden zudem die Positionen der europäischen Öffentlichkeit ermittelt, über eine Million Bürger und Bürgerinnen haben ihre Meinung per e-Mail eingegeben) wurde beauftragt, Vorstellungen für eine grundsätzliche Reform der EU zu entwickeln.
Aus dem Ergebnis des Konvents wurde der Verfassungsvertrag geschmiedet. Während Volksabstimmungen in Luxemburg (56%) und Spanien (77%) deutlich für den Verfassungsvertrag ausgingen, waren es letztlich die negativen Volksabstimmungen in Frankreich und den Niederlanden die dafür sorgten, dass der Ratifikationsprozess gestoppt wurde.
Es schloss sich eine zweijährige "Reflexionsphase" an, in der auf nationaler und europäischer Ebene (Plan D, Dialog und Diskussionen mit den Bürgern und Bürgerinnen) ausgelotet wurde, wie weiter zu verfahren sei. Es zeigte sich, dass auch die Mehrheit der französischen und niederländischen Bevölkerung davon überzeugt war, dass der europäische Integrationsprozess fortgesetzt werden müsse und sowohl die Mitgliedschaft ihrer Länder in der EU, wie auch die europäische Idee als solche eine gute Sache seien.
Vor diesem Hintergrund wurde 2007 der Vertrag von Lissabon bzw. Reformvertrag von den Staat- und Regierungschefs verabschiedet, der auf der Substanz des Verfassungsvertrages aufbaut und jetzt durch die Parlamente der Mitgliedstaaten ratifiziert wird. Im Juni 2008 stimmte die irische Bevölkerung mit Nein und stürzte damit die Europäische Union in eine tiefe Krise.
Umfragen und Analysen zeigen, dass das Nein der Iren einerseits durch unbegründete Ängste (z.B. die unbegründete Angst, die EU würde in Irland den Schwangerschaftsabbruch erzwingen) andererseits durch konkrete Befürchtungen vor einem Machtverlust als kleiner Mitgliedsstaat (Verlust des irischen Vertreters in der Europäischen Kommission) erklärt werden kann. Eine neue Abstimmung in Irland ist erst zu erwarten, wenn diese Bedenken ausgeräumt werden. Die Iren stimmen dann nochmals ab - natürlich ist das demokratisch.
Das irische Beispiel zeigt aber auch, wie problematisch Volksabstimmungen über EU-Verträge sind. In einem langen Vertragstext, der notwendigerweise ein Kompromiss ist, findet sich immer ein Punkt, mit dem man nicht einverstanden ist. Es ist dann ziemlich leicht, "Nein" zu sagen. Die richtige Frage für eine Volksabstimmung wäre meines Erachtens gewesen: "Sind Sie für den Vertrag von Lissabon oder wollen Sie weiter als Grundlage den Nizzavertrag?". Dann wären die Alternativen klarer definiert gewesen.
Mit freundlichen Grüßen,
Evelyne Gebhardt