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Frage von Paul B. •

Frage an Ernst Bahr von Paul B. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen

Sehr geehrter Herr Bahr!

Auf der Netzseite des BVerfG fand ich diesen Beschluss:

Das Bundesverfassungsgericht stellte 1973 fest:
(Aktenzeichen 2 BvF 1/73) Es wird daran festgehalten (zum Beispiel BVerfG, 1956-08-17, 1 BvB 2/51, BVerfGE 5, 85 <126>), daß das Deutsche Reich den Zusammenbruch 1945 überdauert hat und weder mit der Kapitulation noch durch die Ausübung fremder Staatsgewalt in Deutschland durch die Alliierten noch später untergegangen ist; es besitzt nach wie vor Rechtsfähigkeit, ist allerdings als Gesamtstaat mangels Organisation nicht handlungsfähig. Die BRD ist nicht ´Rechtsnachfolger´ des Deutschen Reiches, sondern als Staat identisch mit dem Staat "Deutsches Reich", – in Bezug auf seine räumliche Ausdehnung llerdings ´teilidentisch´.

Wenn ich das richtig verstehe, leben wir eigentlich noch immer im Deutschen Reich. Die BRD würde sich auflösen, wenn das DR handlungsfähig wäre.

Würde mich sehr über Ihre Erläuterung freuen.

Mit freundlichen Grüßen

Paul Biermann

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Antwort von
SPD

Sehr geehrter Herr Biermann,

die Bundesrepublik Deutschland ging von Anfang an vom Fortbestand des Deutschen Reiches aus und vertrat zunächst die Auffassung, mit diesem sowohl als Rechtssubjekt als auch in staatsrechtlicher Hinsicht identisch zu sein.

Der Parlamentarische Rat hat das Grundgesetz nicht als Akt der Neugründung eines Staates verstanden; er wollte „dem staatlichen Leben für eine Übergangszeit eine neue Ordnung“ geben, bis die „Einheit und Freiheit Deutschlands“ in freier Selbstbestimmung vollendet sei (Präambel des Grundgesetzes). Präambel und Art. 146 GG legen das gesamte Grundgesetz auf dieses Ziel hin fest: der Verfassungsgeber hat dadurch den Willen zur staatlichen Einheit Deutschlands normiert, der wegen der zwischen den Besatzungsmächten ausgebrochenen weltpolitischen Spannungen ernsthafte Gefahr drohte.

Der Rat wollte damit einer staatlichen Spaltung Deutschlands entgegenwirken, soweit dies in seiner Macht lag. Es war die politische Grundentscheidung des Parlamentarischen Rates, nicht einen neuen („westdeutschen“) Staat zu errichten, sondern das Grundgesetz als Reorganisation eines Teilbereichs des deutschen Staates – seiner Staatsgewalt, seines Staatsgebiets, seines Staatsvolkes – zu begreifen.

Dieses Verständnis der politischen und geschichtlichen Identität der Bundesrepublik Deutschland liegt dem Grundgesetz zugrunde. Das Festhalten an der deutschen Staatsangehörigkeit in Art. 116 Abs. 1, 16 Abs. 1 GG und damit an der bisherigen Identität des Staatsvolkes des deutschen Staates ist normativer Ausdruck dieses Verständnisses und dieser Grundentscheidung.

Weder das Grundgesetz selbst noch die auf seiner Grundlage gebildeten Staatsorgane der Bundesrepublik Deutschland haben diesen Vorgang als Untergang des deutschen Staates bewertet. Die Bundesrepublik Deutschland betrachtete sich vielmehr von Beginn an als identisch mit dem Völkerrechtssubjekt Deutsches Reich. Damit wird eine staatsrechtliche Kontinuität und völkerrechtliche Identität – durch das Völkerrechtssubjekt „Deutschland“ vertreten und verdeutlicht –, die 1871 mit dem Deutschen Kaiserreich und vorausgehend 1867 mit dem Norddeutschen Bund begann, unter der Bezeichnung „Bundesrepublik Deutschland“ fortgeführt.

Die Bundesrepublik erkannte 1970 im Warschauer Vertrag und später im Zuge der Wiedervereinigung 1990 bei der KSZE-Schlussakte über die Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa von Helsinki die Oder-Neiße-Linie als faktisch unverletzliche Westgrenze Polens an. Die Bundesrepublik hat also die Rechte und Pflichten des Deutschen Reiches in vollem Umfang übernommen. Das heißt, eines "Deutschen Reiches" bedarf es nicht mehr, zumal dies ohnehin nur ein anderer Name für den deutschen Staat wäre. Diese Ansicht ist in der Rechtswissenschaft unbestritten.

Das Amtsgericht Duisburg titelte zu einer ähnlichen Diskussion: „Das Bonner Grundgesetz ist unverändert in Kraft. Eine deutsche Reichsverfassung, eine kommissarische Reichsregierung oder ein kommissarisches Reichsgericht existieren ebenso wenig, wie die Erde eine Scheibe ist”. Alles in allem darf ich Ihnen jedoch versichern: Sie sind Bürger der Bundesrepublik Deutschland, wie auch der Europäischen Union.

Mit freundlichem Gruß
Ihr

Ernst Bahr, MdB