Frage an Dorothée Menzner von Sascha H. bezüglich Verkehr
Sehr geehrte Frau Menzner,
das Projekt "Stuttgart 21" nimmt ja nun offensichtlich Dimensionen an, die, meines Erachtens, kein Verantwortungsbewusster Mensch mehr vertreten kann. Steht der Nutzen dieses Projektes überhaupt noch annähernd in einem tolerierbaren Verhältnis zu den Kosten? Muss in Stuttgart wirklich so ein wahnwitziger Prestige-Bau entstehen? Genügt denn im Stuttgarter Hauptbahnhof nicht eine umfangreiche Modernisierung? Ich bin sicher nicht allein mit der Meinung, dass die Milliarden, die dort grob fahrlässig verprasst werden sollen, in anderen Bereichen (z.B. Modernisierung/ Ausbau der Infrastruktur für den Schienen-Güterverkehr) eine echte Investition wären.
Mit freundlichem Gruß
Sascha Hirschhausen
Sehr geehrter Herr Hirschhausen,
herzlichen Dank für Ihre Anfrage. Selten konnte ich das Anliegen eines Fragestellers so teilen wie bei Ihnen. Sie haben vollkommen Recht damit, dass die Dimensionen des Projektes Stuttgart 21 von verantwortungsbewussten Menschen nicht vertreten werden können. Nicht desto trotz halten Bahnchef Hartmut Mehdorn, Verkehrsminister Wolfgang Tiefensee und Ministerpräsident Günther H. Oettinger an den Wahnsinnsplänen fest.
Dabei stellt ein Kopfbahnhof kein betriebliches Hindernis mehr dar, wie dies früher der Fall war, wo aufwändige Lokomotivwechsel viel Zeit kosteten und viele Rangierfahrten erforderten. Durch den Einsatz von Wendezügen und Triebzügen im Fern- und Regionalverkehr sind die Aufenthaltszeiten in Kopfbahnhöfen drastisch verkürzt worden. Ein ICE-Zug wird derzeit schon in drei Minuten abgefertigt. Ein Durchgangsbahnhof brächte da nicht viel mehr Fahrzeitgewinn. Zumal berücksichtigt werden muss, dass in so große Knoten wie Stuttgart auch Anschluss- und Umsteigebeziehungen abgewartet werden müssen, die deshalb zuweilen zu längeren Aufenthaltszeiten führen. Nur um die Aufenthaltszeiten von ICE-Zügen von fünf auf drei Minuten zu verkürzen, kann man nicht fünf oder mehr Milliarden Euro ausgeben wollen. Schon mit der nächsten Zugverspätung sind die gewünschten Fahrzeitverkürzungen vom Tisch. Auch darf bezweifelt werden, dass ein achtgleisiger Durchgangsbahnhof, wie für Stuttgart geplant, leistungsfähiger ist als ein sechzehngleisiger Kopfbahnhof.
Der Stuttgart-21-Bahnhof wäre deutlich kleiner als die Bahnhöfe in Hannover, Köln oder Karlsruhe, obwohl die Stadt für den Bahnverkehr die gleiche Bedeutung besitzt. Stuttgart 21 wird damit der Zukunft nicht gerecht werden können.
Die Gründe für diese eklatante Fehlplanung werden deutlicher, wenn man beachtet, dass das Projekt Stuttgart 21 Teil einer Strategie der DB AG ist, den Fernverkehr auf wenige Hauptstrecken zu verlagern und die Fläche dabei deutlich zu vernachlässigen. Dieses System ist als „Hub and Spoke“ aus dem Luftverkehr bekannt, wird von Experten aber als eher untauglich für den Bahnverkehr bewertet.
Es ist nicht zu bestreiten, dass viele Bereiche des Stuttgarter Hauptbahnhofs den heutigen betrieblichen Erfordernissen nicht mehr ganz entsprechen. Doch seit 1998 gibt es vom BUND (Bund für Umwelt- und Naturschutz Deutschlands) Alternativkonzepte, die durch einen minimalen Umbau des Gleisvorfeldes und seine Optimierung flüssigere Betriebsabläufe ermöglichen würden und dabei weit weniger als die Verlegung und Umwandlung des Stuttgarter Hauptbahnhofes zu einem Durchgangsbahnhof kosten würden. Diese Konzepte vom BUND können Sie unter: http://www.kopfbahnhof-21.de/uploads/media/Kopfbahnhof_21.pdf downloaden und sich selbst ein umfassendes Bild machen
Der von der Politik favorisierte Durchgangsbahnhof bringt entgegen den landläufigen Beteuerungen sogar betriebliche Probleme. So hat das Planungsbüro Vieregg-Rössler bei der Präsentation des Gutachtens „Ermittlung der wahrscheinlichen Kosten des Projekts Stuttgart 21“ im Juli 2008 besonders die finanziellen Aspekte des Projekts in das Licht der Öffentlichkeit gerückt. In einem zweiten Schritt haben die Gutachter nun „Betriebliche Mängel des Projekts Stuttgart 21“ in den Blick genommen. Karlheinz Rössler zeigt hier gravierende Mängel für den Tunnelbahnhof, wie auch den neuen Flughafen-Fernbahnhof auf. Die Zulaufstrecken zum Fernbahnhof und für die zukünftige Gäubahn-Führung in Stuttgart würde sehr enge Kurvenradien und große Steigungen zwischen Flughafen-Fernbahnhof und der neuen ICE-Strecke Ulm-Augsburg mit sich bringen. Es entstünde eine „unterirdische Geislinger Steige“ mit Steigungen bis zu 29 Promille. Die geplanten Kurvenradien von 300 Metern, wie sie eher bei Gebirgsbahnen etwa in den Alpen anzutreffen sind, ließen zudem nur Maximalgeschwindigkeiten von 80 km/h zu. Das ist weit entfernt von der heutigen betrieblichen Kapazität. Durch eine nur eingleisige Anbindung des Flughafen-Fernbahnhofs wird zudem ein neues Nadelöhr geschaffen, dessen Dimension die heutigen Engpässe weitgehend in den Schatten stellen würde.
Eine Anbindung der neuen ICE-Strecke Stuttgart - Ulm könnte mit dem jetzigen Kopfbahnhof weitaus problemloser erfolgen.
Ich möchte noch auf einen weiteren Aspekt eingehen: Besonders gravierend für mich ist, dass der Bauherr, die bundeseigene Deutsche Bahn AG, tatkräftig vom Land Baden-Württemberg, von der Region Stuttgart und von der Stadt Stuttgart unterstützt wird. So setzt sich ausgerechnet die »Öffentliche Hand« über alle Gebote des Denkmalschutzes hinweg, indem sie ein herausragendes, weltbekanntes, zudem in die Denkmalliste eingetragenes Kulturdenkmal fragmentiert, beschädigt und den verbleibenden Rest zu einer baulichen Attrappe degradiert.
Schon 1921 schrieb Fritz Stahl im Berliner Tagesblatt zum Gebäudekomplex. „Es ist das erste Bahnhofsviertel Deutschlands, und wahrscheinlich der Welt, das nicht eine Scheußlichkeit ist.“ Und gerade das Stuttgarter Empfangsgebäude gehört zu einem bedeutenden Wahrzeichen der Schwabenmetropole. Ich denke, sogar zu einem der wichtigsten in Deutschland, in einer Reihe mit dem Brandenburger Tor in Berlin, dem Kölner Dom oder der Hamburger St. Michaelis-Kirche. Gerade mir als Architektin erscheint es als großer Frevel, dass mit dem Projekt Stuttgart 21 die Seitenflügel, darunter der Süd-Ostflügels am Schlossgarten (Cannstatter Straße) und der Nord-Ost-Flügel mit dem alten Posttrakt trotz Denkmalschutz abgerissen werden sollen. Es wäre der gleiche architektonische GAU wie bei der Sprengung des Gebäudes des Anhalter Bahnhofes in Berlin von Franz Schwechten. Auch der geplante Abriss der Haupttreppe innerhalb der großen Schalterhalle und der Verkehrsebene in der Kopfbahnsteighalle trifft bei mir auf Unverständnis. Das geht schon an die Substanz der Stuttgarter und württembergische Identität, sollten diese Wahnsinnspläne umgesetzte werden. Viele Bürgerinnen und Bürger wehren sich auch gegen diese Mammutpläne und haben inzwischen auch eine Petition an den Bundestag gestartet, wobei ich Sie herzlich bitten würde, diese unter https://epetitionen.bundestag.de/index.php?action=petition;sa=details;petition=1013 zu unterstützen. Zudem möchte ich Ihnen naheliegen, sich die Seite http://www.kopfbahnhof-21.de/ anzuschauen, in der Sie weitere Informationen zu diesem Projekt finden. Zudem auch Adressen von Initiativen, die sich gegen den Abriss und den unterirdischen Bahnhofsneubau wenden. Ich würde mich freuen, wenn Sie bei einem dieser Projekte mitarbeiten können.
Ich versichere Ihnen abschließen, dass meine Fraktion und die Partei DIE LINKE sowie meine Mitarbeiter und ich selbst alles dafür tun werden, um die Wahnsinnpläne namens „Stuttgart“ 21 zu Fall zu bringen. Mit den eingesparten Milliardenbeträge ließe sich, wie Sie zurecht feststellen, viele Projekte im Eisenbahnverkehr und zum Ausbau seiner Infrastruktur finanzieren, deren Verwirklichung heute auf Eis liegen. Besonders auch der von der DB AG mit Zustimmung des Bundesverkehrsministeriums vernachlässigte Fernverkehr, der sich durch den 2002 erfolgte Streichung des Interregio-Zugnetzes besonders schmerzlich für die Fahrgäste manifestierte.
Sicherlich reicht es nicht aus, Stuttgart 21 zu verhindern, sondern es bedarf eines deutlichen Wechsels in der Verkehrspolitik. Im November haben die Oppositionsparteien im Bundestag, darunter die LINKE auch den Rücktritt von Minister Tiefensee als auch von Bahnchef Mehdorn gefordert und dies auch mit dem Festhalten am Projekt Stuttgart 21 begründet. Durch einen personellen Neuanfang könnte es auch für den Erhalt des Stuttgarter Kopfbahnhofes neue Perspektiven geben.
Ich hoffe, Ihnen mit dieser Antwort Mut für Ihr Engagement gegen Stuttgart 21 gegeben zu haben und
verbleibe mit freundlichen Grüßen
Dorothée Menzner