Frage an Doris Barnett von Achim W. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Sehr geehrte Frau Barnett,
schade, dass Ihre Beantwortungsquote hier klein ist; ich werde eine weitere Anfrage Ihrem Büro schicken.
Ich hätte da einmal eine Frage, sie ist ernst gemeint und nicht polemisch. Im derzeitigen Bundestag sitzen ungefähr 23% Juristen. Also Menschen deren Ausbildung es nötig macht, sich mit den Gesetzen auszukennen. Außerdem müssen sie tiefgehende Kenntnisse über das Grundgesetz nachweisen. Vor diesem Hintergrund verstehe ich nicht, dass alleine in der ablaufenden Legislaturperiode zwei Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts erkennen lassen, dass der Bundestag nicht in der Lage ist, verfassungskonforme Gesetze zu beschließen. So kann ich im Urteil des Lissabonvertrags nicht wirklich etwas Positives sehen- immerhin haben die Richter den Bundestag beauftragt, ein Gesetz nachzubessern. Besonders erschreckt es mich, dass der Bundestag eigene Rechte und Kompetenzen einfach so abgibt.
Auch zum Thema Onlinedurchsuchungen wurde non chalant in die Bürgerrechte eingegriffen und grundlegende rechtsstaatliche Prinzipien nicht bedacht.
Frau Barnett, wie alles im Leben haben alle Dinge mehrere Perspektiven und man kann und soll durch seine politische Tätigkeit die Gesellschaft mitgestalten. Das ist in Ordnung so, deshalb gibt es ja unterschiedliche Parteien mit unterschiedlichen Programmen. Aber ist es denn zuviel verlangt, rechtlich saubere gesetze zu gestalten?
Freundliche Grüße
Sehr geehrter Herr Waldek,
ich freue mich, dass Sie ernsthaft da nachfragen, wo viele nur polemischen Spott übrig haben: bei der Gesetzgebung. Ja, wir haben viele Juristen als Abgeordnete, als Fraktionsmitarbeiter, in den Ministerien. Und wir alle sind bestrebt, die Gesetze verfassungskonform zu fassen. Und auch der Bundesrat, der ebenfalls einen großen juristischen Apparat zur Verfügung hat, will, dass die Gesetze, denen er zustimmt, Bestand haben. Aber wenn alles so eindeutig wäre, bräuchten wir keine Gerichte, zumindest keine Obergerichte. Recht ist allerdings keine starre Angelegenheit – Recht lebt und entwickelt sich ständig fort. Deshalb ändern die obersten Gerichte auch hin und wieder ihre Rechtsprechung, weil sich das Zusammenleben der Menschen, die Werte etc. geändert haben und die bisherige Rechtsanwendung nicht passt, ja sogar unbillig wäre. Die Bewertung von Sachverhalten ist nie bzw. nur selten ganz klar, so dass nur eine Sichtweise möglich ist.
Und deshalb kommt es schon vor, dass das Verfassungsgericht sich nicht immer der Sichtweise des Verfassungsorgans Parlament anschließt.
Die Auslegung des BVerfG zum Lissabon-Vertrag schafft für die Abgeordneten schon einen besseren Status gegenüber der Regierung. Wir sind mitzubeteiligen, nicht nur –rechtzeitig- zu unterrichten. Da immer mehr Lebenssachverhalte durch die EU (mit)bestimmt werden, muss der nationale Gesetzgeber schon die Möglichkeit haben, sich rechtzeitig einzuschalten und gehört zu werden. Natürlich haben wir ja 99 deutsche Europa-Abgeordnete. Die sind aber umso stärker und wirkungsvoller, je mehr sie Rückendeckung ihrer MdB-KollegInnen haben.
Der Prozess des Zusammenwachsens von Europa ist ein langwieriger und wird noch einige Zeit brauchen. Wenn man aber etwas zusammenwachsen lassen will, muss das Neue, das Große Ganze, auch Kompetenzen haben. Ich will, dass Europa nicht nur eine Wirtschaftsmacht darstellt, sondern auch seine Menschen etwas davon haben, dass möglichst viele Wohlstand generieren. Nur so können die Ungleichheiten überwunden werden, mit denen man so gut „spielen“ kann (Löhne, Energiekosten, Emissionen, Gebühren, Steuern usw.). Wir haben dafür aber noch einen langen und z.T. steinigen Weg vor uns – aber wir werden ihn gehen, denn ein „Zurück“ gibt es nicht (hätte auch dramatische Folgen, die gerne verdrängt werden).
Mit freundlichen Grüßen
Doris Barnett