Wie positionieren Sie sich zur Reform des GEAS?
Sehr geehrter Herr Baldy,
seit etwa 4 Jahren engagiere ich mich im Menschenrechtsverein Medinetz Mainz e.V. wo wir medizinische Hilfe für Menschen ohne Krankenversicherung (zumeist geflüchtete und migrierte Personen) organisieren. Über diese Arbeit habe ich viel gelernt über persönliche Schicksale und strukturelle Ungerechtigkeiten in der EU/Deutschland und an den Außengrenzen. Zu der geplanten Reform der europäischen Asylpolitik gibt es von beinahe allen Organisationen, die in diesem Bereich aktiv sind massive Kritik und Warnung. Auf Ihrer Internetseite schreiben Sie, dass Sie für eine verantwortungsvolle Außenpolitik stehen, bei der Sie den Menschen im Blick haben. Bitte nehmen Sie die eindringlichen Warnungen von über 50 Organisationen ernst. https://www.amnesty.de/sites/default/files/2023-05/Statement-Gemeinsames-Europaeisches-Asylsystem-Appell-Bundesregierung-Reform-Mai-2023.pdf
Wie positionieren Sie sich? Werden Sie sich gegen die geplanten Änderungen einsetzen?
Sehr geehrter Herr S.,
vielen Dank für Ihre Frage zur Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) und die Stellungnahme von Amnesty, auf die Sie aufmerksam machen.
Am 08. Juni einigten sich die Innenminister:innen der EU-Mitgliedsländer auf einen Reformvorschlag. Dieser wird nun im nächsten Schritt mit dem EU-Parlament diskutiert.
Erst, wenn das Parlament und die Mitgliedsländer sich einigen, kann eine Reform in Kraft treten.
Lassen Sie mich zu Beginn meine grundsätzlichen Überzeugungen zu dem Thema darlegen:
Menschen, die vor Krieg, Gewalt, Hunger oder anderen Katastrophen fliehen, müssen sich auf unseren Schutz verlassen können.
Wir müssen hierbei unserer humanitären Verantwortung gegenüber den Menschen gerecht werden.
Für mich ist zentral, dass alle geflüchteten Personen ein faires Asylverfahren erhalten.
Insbesondere Kinder und Jugendliche müssen geschützt werden – das ist mir als Familienpolitiker ein wichtiges Anliegen.
Wir sehen aktuell, dass die Standards bei der Unterbringung und Behandlung von Geflüchteten sowie der Dauer ihrer Asylverfahren in den EU-Staaten sehr unterschiedlich sind. Außerdem gab es bisher keinen funktionierenden Mechanismus zur fairen Verteilung von Flüchtlingen auf die Mitgliedsstaaten.
Für die Bundesregierung war klar: Wir wollen das Europa der offenen Grenzen retten. Dafür müssen die EU-Außengrenzen verlässlich kontrolliert werden. Gleichzeitig müssen klare und rechtssichere Verfahren sichergestellt sein, ohne am Grundrecht auf Asyl und der individuellen Prüfung zu rütteln.
Mit der Einigung der Innenmister:innen konnte nun eine jahrzehntelange Blockade der EU-Staaten überwunden werden. Dieser Reformvorschlag umfasst mehrere Neuerungen.
Künftig soll über einen Teil der Schutzgesuche bereits an den EU-Außengrenzen entschieden werden.
Dies gilt aber nur in bestimmten Fällen. Beispielsweise, wenn die Antragsteller:innen aus Herkunftsländern stammen, deren Staatsangehörige ohnehin nur geringe Chancen auf ein erfolgreiches Schutzgesuch haben.
Für Geflüchtete mit einer hohen Schutzquote – beispielsweise Personen aus Syrien, Afghanistan oder dem Irak - gelten diese Verfahren an der Grenze nicht.
Die Bundesregierung hat in den Verhandlungen durchgesetzt, dass unbegleitete Kinder und Jugendliche direkt in die EU einreisen können und nicht in die Verfahren an der Grenze kommen. Wir wollen weiterhin, dass dies auf alle Familien mit minderjährigen Kindern ausgeweitet wird. Leider konnte Deutschland sich in dieser Frage nicht durchsetzen.
Dafür wird sich die Bundesregierung aber in den nun anstehenden Verhandlungen zwischen Rat und Europäischem Parlament weiter einsetzen.
Auch in Außengrenzverfahren werden Asylanträge nach rechtsstaatlichen Grundsätzen geprüft. Es geht darum, Schutzsuchende, deren Anträge voraussichtlich keinen Erfolg haben können, frühzeitig zu identifizieren und schnell über ihre Gesuche zu entscheiden. Alle Schutzsuchenden können bei Ablehnung ihres Antrags Klage erheben. Zudem kann im Außengrenzverfahren ein Antrag auf aufschiebende Wirkung der Klage gestellt werden. Bis zum Abschluss der gerichtlichen Prüfung dieses Antrags werden Schutzsuchende nicht zurückgeführt. Damit ist in jedem Fall gewährleistet, dass keine Rückführung ohne eine richterliche Kontrolle stattfindet.
Die zahlenmäßigen Kapazitäten für die Grenzverfahren sind beschränkt und es ist eine Kappungsgrenze vorgesehen. So wird einer Überfüllung vorgebeugt. Das Grenzverfahren ist außerdem zeitlich begrenzt, was einer Überlastung ebenfalls entgegenwirkt.
Eine Unterbringung unter menschenwürdigen Bedingungen muss immer gewährleistet sein. Besondere Bedarfe verletzlicher Personen müssen berücksichtigt werden. Wenn diese Bedarfe nicht berücksichtigt werden können, müssen die entsprechenden Personen aus den Grenzverfahren herausgenommen werden. Dies könnte z.B. ältere Menschen, Schwangere oder Menschen mit Behinderungen betreffen.
Vereinbart wurde auch ein dauerhafter, verbindlicher und auf einem fairen Schlüssel beruhender Solidaritätsmechanismus. Er soll sicherstellen, dass die Staaten an den EU-Außengrenzen von anderen EU-Mitgliedsstaaten entlastet werden, sei es durch die Übernahme von Personen, sei es durch finanzielle Unterstützung.
Dass niemand in beliebige Drittstaaten abgeschoben werden darf, ist ein zentraler Punkt, bei dem sich die Bundesregierung in den Verhandlungen durchsetzen konnte.
Abschiebungen in Drittstaaten sind nur möglich, wenn die Personen eine Verbindung zu diesem Staat aufweisen können (ein reiner Transitaufenthalt zählt hierbei nicht) und der Staat als sicher eingestuft wurde.
Um als sicherer Drittstaat eingestuft zu werden, muss ein Staat die Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) ratifiziert haben und grundlegende Standards des Flüchtlingsrechts garantieren.
In allen Asylverfahren gelten zukünftig die Anforderungen der weiterentwickelten Aufnahme-Richtlinie, an die sich alle Mitgliedstaaten halten müssen. Zum Beispiel müssen materielle Leistungen einen angemessenen Lebensstandard ermöglichen, die medizinische Grundversorgung muss gewährleistet und Zugang zu Bildung möglich sein. Ob diese Standards in den Mitgliedstaaten eingehalten werden, überwachen die nationalen Gerichte und letztlich der Europäische Gerichtshof sowie die Europäische Kommission.
Für mich ist klar: Menschenrechtsverletzungen, wie wir sie beispielsweise auf Moria miterleben mussten, dürfen sich nicht wiederholen.
Lassen wir allerdings einige wenige Länder mit der Situation alleine, verschärft das die ohnehin angepasste Lage nur – häufig auf Kosten der schutzsuchenden Flüchtlinge.
Einheitliche Standards zur Verteilung und Unterbringung sind daher sinnvoll und werden die Situation für viele Geflüchtete merklich verbessern. Ich unterstütze deshalb die Bemühungen um eine GEAS-Reform.
Viele Mitgliedsländer der EU verfolgen einen harten Kurs in Fragen der Asyl- und Migrationspolitik.
Einen Kompromiss zu verhandeln war daher ein sehr schwieriges Unterfangen.
Die Einigung der Minister:innen werte ich vor diesem Hintergrund als gutes Zeichen, denn sie zeigt die Bereitschaft der EU-Staaten, endlich ein gemeinsames, faires Asylsystem in der Europäischen Union zu schaffen.
Trotzdem sehe ich inhaltlich einige Punkte kritisch und hoffe, beispielsweise in der Frage des Schutzes von Familien und Kindern, auf Nachbesserungen. Hierfür werde ich mich auch in Gesprächen mit der Bundesregierung und meinen Kolleg:innen im Europäischen Parlament einsetzen.
Der Kompromissvorschlag zum GEAS erforderte einige Zugeständnisse, die mir nicht leichtfallen.
Doch wir müssen uns auch bewusst sein, was eine Ablehnung Deutschlands bedeutet hätte:
Hätte die Bundesregierung gemeinsam mit Polen und Ungarn gegen den Reformvorschlag gestimmt, wäre eine Einigung unmöglich geworden.
Somit würde die aktuelle Situation in Europa – mit Lagern wie in Moria und überforderten Staaten wie Italien – auf Jahre fortgesetzt werden. Dass hätte nicht nur die Europäische Union vor eine Zerreißprobe gestellt, sondern auch für die Geflüchteten keine Verbesserungen gebracht.
Wir haben nun einen Vorschlag der EU-Mitgliedsstaaten, der eine solidarische Verteilung ankommender Flüchtlinge sicherstellt und Außengrenzstaaten entlastet, gleichzeitig aber Menschenrechtsstandards festschreibt, deren Einhaltung engmaschig kontrolliert werden soll.
Dieser Vorschlag bildet die Grundlage für die Verhandlungen mit dem EU-Parlament.
Ich bin zuversichtlich, dass wir in dieser Frage letzten Endes zu einer mehrheitsfähigen Lösung kommen werden, die der Situation der Geflüchteten Rechnung trägt und die EU-Staaten bei der Versorgung von Flüchtlingen bestmöglich unterstützt und entlastet.
Mit freundlichen Grüßen
Daniel Baldy