Frage an Clemens Binninger von Jay S. bezüglich Recht
Sehr geehrter Herr Binninger,
die meisten Bürger haben das Berliner Attentat mitfühlend, ruhig und bessonen aufgenommen. Dies ist sicherlich richtig und notwendig.
Finden Sie auch, dass es die Aufgabe der Ermittlungsbehörden ist, zu ermitteln, ob es neben den getöteten Tatverdächtige weitere Tatbeteiligte gibt oder nicht? Natürlich sollten die Behörden sich dabei von Herrn Seehofer und Herrn de Maizierre nicht beeinflussen lassen, sondern in einen rechtstaatlichen Verfahren die Fakten ermitteln.
Die Sicherheitsbehörden schätzen wohl 324 von 548 als islamistische Gefährder mit deutscher Staatsangehörigkeit ein.(Quelle SZ vom 09.01.2016).
Können Sie einschätzen aus welchen Gründen die Personen sich z.B. ISIS angeschlossen haben? Wie können davon Personen wieder von der ISIS befreit werden und die Gesellschaft integriert werden? Wie kann verhindert werden, dass sich in Zukunft jemand zum Gefährder wird?
Diese Fragen stellen sich ja auch in den europäischen Nachbarländern wie z.B. in Frankreich und Belgien und z.B. bei Flüchtlinge die sich in Europa radikalisiert haben.
Wissen Sie, ob eine oder mehrere Behörden prüfen, ob der getötete Tatverdächtige wegen der vermuteten Ordnungswidrigkeiten und Straftaten (z.B. Benutzung mehrerer Identitäten, Reisen durch BRD, Drogengeschäfte, Brügeleien) hätte belangt und damit evtl. aufgehalten werden können? Dies wäre ja auch wichtig, um für künftige Situationen aus den Fehlern zu lernen.
Ich würde mir wünschen, dass die Regierungskoalition die Ermittlungen erst einmal abwartet, die Fehler und Probleme analysiert, statt sich von Populisten in überhastete, wenig sinnvolle oder rechtswidrige Massnahmen treiben zu lassen.
Souverenität und Ruhe ist auch eine Stärke.
In diesem Sinne.
Mit freundlichen Grüßen
Scharff
Sehr geehrter Herr Scharff,
vielen Dank für Ihre Anfrage.
In der Regel kommen bei der Radikalisierung und der Hinwendung zum gewaltorientierten Islamismus mehrere Gründe zusammen. Dabei kann Radikalisierung religiös beeinflusst sein, ebenso spielen aber jugendphasentypische Aspekte - Identitätsentwicklung, Sinnsuche und die Suche nach Halt und Ordnung - eine Rolle, außerdem u.a. auch biographische Erfahrungen sowie das jugendliche Bedürfnis nach Action und Nervenkitzel, das durch die schillernde IS-Propaganda genährt wird.
Im Kampf gegen den gewaltorientierten Islamismus sind Deradikalisierung und Prävention wichtige Instrumente. Die sich daraus ergebenden Maßnahmen und Ansatzpunkte sind vielfältig, u.a. hat etwa das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge die „Beratungsstelle Radikalisierung“ eingerichtet, an die sich alle Personen wenden können, die sich um die Radikalisierung eines Angehörigen oder Bekannten sorgen und zu diesem Themenbereich Fragen haben. Auch desillusionierte und deradikalisierte zurückgekehrte „Foreign Fighters“, die im Irak oder in Syrien für den sog. IS gekämpft haben, können zu Deradikalisierung beitragen, wenn sie ihre Geschichten publik machen. Der Katalog der Präventions- und Deradikalisierungsmaßnahmen ist lang, trotzdem müssen wir gleichzeitig auch über verstärkte Sicherheitsmaßnahmen nachdenken und politisch nachjustieren.
Dazu hat der Bundesinnenminister kürzlich einige Vorschläge vorgelegt, die meine volle Unterstützung haben. Die Ermittlungsarbeit zum Terroranschlag in Berlin - auch die Fahndung nach weiteren Tätern oder Unterstützern - ist immens wichtig und läuft in Deutschland auch nach rechtsstaatlichen Vorgaben. Die Probleme, die der Innenminister angesprochen hat, sind aber nicht neu, sondern ein Zeichen, dass der Föderalismus in Bezug auf die Bekämpfung des internationalen Terrorismus an seine Grenzen kommt. Dieselbe Grundproblematik haben wir im Übrigen auch bereits bei der Aufarbeitung des „NSU-Komplex“ erkannt. Hier Lösungen zu fordern, ist nicht populistisch sondern nur konsequent.
Zur Gefährdung durch den Attentäter von Berlin, Anis Amri: Den Behörden war alles bekannt. Er war „Gefährder“, man wusste, dass er sich Asylleistungen erschlichen hat, das Asylverfahren war abgelehnt und er war ausreisepflichtig. „Gefährder“ ist zunächst jedoch eine Einstufung der Sicherheitsbehörden, ihr liegt noch kein Strafverfahren zugrunde. Es hätte die Möglichkeit bestanden, ihn in Abschiebehaft zu nehmen. Man hat dies nicht getan, so die Behörden in NRW, weil die tunesischen Behörden noch keine Ersatzpapiere übersandt hatten. Es hat sich mittlerweile aber gezeigt, dass dies eine tragische Fehlentscheidung gewesen ist - insbesondere weil Tunesien Anis Amri schon im Oktober 2016 als Staatsbürger anerkannt hatte.
Grundsätzlich ist das Prozedere der Beschaffung von Passersatzpapieren häufig ein Problem, weil es sehr lange dauert. Daher plädiere ich dafür, einen zusätzlichen Haftgrund einzuführen: Wer ausreisepflichtig ist und als gefährlich eingestuft wird, muss in Haft genommen werden können.
Mit freundlichen Grüßen
Clemens Binninger