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Claudia Roth
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Frage von Peter J. Dr. S. •

Frage an Claudia Roth von Peter J. Dr. S. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen

Sehr geehrte Frau Roth,

nach dem Vernehmen nach sind Sie grundsätzlich für die Mitgliedschaft der Türkei in der EU. Ich frage mich was ist Ihr Motiv für ein solches Ziel. Haben Sie eine besondere Affinität zur Türkei?
Ich muss betonen, ich selbst lebe seit 2002 im Ausland, dank der Genossin Buhlman und ihrer Reform des HRG hinsichtlich der Beschäftigungsdauer von wiss. Mitarbeitern. Ich habe in allen Staaten in denen ich arbeite und gearbeitet habe immer sofort Freunde gewonnen. Dies ist mir aber nur deshalb gelungen, weil ich nicht den Anspruch hatte das Land zu reformieren oder gar meine eigenen Vorstellungen durchzusetzen. Aber genau das versuchen leider teilweise unsere türkischen Mitbürger, z.T. mit Unterstützung des türkischen Staates (siehe DITIB). Finden Sie nicht auch, dass man solange man Ausländer ist, die Regeln des Gastlandes akzeptieren muss oder aber gehen sollte. Bspw. käme es mir nie in den Sinn nach Saudi-Arabien zu fahren oder dort zu arbeiten, da dort die Menschenrechte verachtet werden (Todesstrafe).

Ich möchte aber auch nicht, das ein Land EU Mitglied wird, wenn die Kultur dieses Landes quasi Menschenrechtsverletzungen zur Frage der Ehre erklärt (Ehrenmorde, Zwangsheirat, Unterdrückung von Christen, Juden etc) und dies hat ja nichts direkt mit dem Staat zu tun (auch dort ist natürich offiziell Ehrenmord verboten und es sind Zwangsehen verboten, aber es passiert praktisch nichts), aber die (Mehrheit der) Menschen in der Türkei finden das offensichtlich toll. Ich möchte betonen, ich habe nichts gegen Türken an sich, aber warum dürfen türkische Frauen nicht allein auf die Strasse oder Deutsch lernen?

Da sollte doch eher die Russische Föderation in die EU aufgenommen werden, wozu ich eine Affinität habe. Aber die haben wenigstens dieselben Moralvorstellungen wie wir und sind integrativer und sind Teil Europas.

Also was soll diese Idee, dass die Türkei der EU beitreten soll, es gibt keinen guten Grund weder ökonomisch noch kulturell.

MfG

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Antwort von
Bündnis 90/Die Grünen

Sehr geehrter Herr Stauvermann,

wir begrüßen und unterstützen die Beitrittsverhandlungen der EU mit der Türkei seit Jahren. Denn wer eine moderne und demokratische Türkei haben möchte, in der Bürgerrechte, Rechte der Frauen, ethnische Minderheiten ebenso wie religiöse und weltanschauliche Gemeinschaften respektiert werden, muss für ehrliche und faire Verhandlungen mit dem Ziel der Vollmitgliedschaft eintreten.

Im Gegensatz zu Ihrem Affinitätsobjekt Russland gibt es eine längere Vorgeschichte der EU-Türkei-Beziehungen. Nach mehr als 40 Jahren Wartezeit haben die Verhandlungen mit der Türkei über einen möglichen EU-Beitritt in der Nacht zum 4. Oktober 2005 begonnen. Der Beschluss, am 3. Oktober 2005 Beitrittsverhandlungen mit der Türkei aufzunehmen, wurde im Dezember 2004 einstimmig vom Europäischen Rat gefällt. Die Türkei hat formal alle dafür notwendigen Bedingungen erfüllt. Auf dem Gipfel in Kopenhagen im Juni 1993 definierten die EU-Mitgliedsstaaten Kriterien, die zur Aufnahme von Beitrittsverhandlungen künftig erfüllt sein müssen: Danach muss ein beitrittswilliges Land unter anderem Stabilität der Institutionen, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sowie die Achtung der Menschenrechte und den Schutz von Minderheiten garantieren und eine funktionierende Marktwirtschaft aufweisen. Als Bedingung für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen wurde die Erfüllung der politischen Kriterien von Kopenhagen formuliert, also eine Verbesserung von Menschen- und Minderheitenrechten, Demokratisierung und Rechtsstaatlichkeit. Bündnis 90/Die Grünen betrachten die EU als ein politisches Projekt für Frieden und Wohlstand auf der Grundlage gemeinsamer Werte. Unserer Meinung nach kann die Integration der Türkei diese Idee nachhaltig unterstützen, denn ein EU-Mitglied Türkei kann ein stabilisierender Anker in der Region sein, der beweist, dass das EU-Modell von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie auch eine Perspektive für Länder mit muslimischer Bevölkerung ist. Eine in die EU integrierte Türkei kann weit mehr zur Stabilisierung der Lage im Nahen Osten oder im Kaukasus beitragen als eine weitgehend selbständig agierende Regionalmacht Türkei. Ein EU-Mitglied Türkei kann zwischen der arabisch-islamischen und der westlichen Staatengemeinschaft vermitteln sowie als Energiebrücke zwischen den Weltmärkten, insbesondere Europas und der Kaspischen Region wirken.

Die Türkei hat in den letzten Jahren massive Fortschritte erreicht und so weit reichende Reformen wie noch nie in ihrer Geschichte durchgeführt. Dass diese Reformen wesentlich mit den EU-Kriterien zusammenhängen, liegt auf der Hand. Ohne eine klare EU-Perspektive wären diese Reformen in so kurzer Zeit innenpolitisch kaum durchsetzbar gewesen. Die Türkei hat die Todesstrafe abgeschafft, den Ausnahmezustand im Südosten des Landes aufgehoben, das Strafrecht reformiert, eine Reform der öffentlichen Verwaltung in Gang gesetzt, die Meinungs- und Versammlungsfreiheit erweitert und dem kurdischen Bevölkerungsteil mehr Rechte eingeräumt. Neben dem muttersprachlichen Unterricht werden erstmals im staatlichen Radio- und Fernsehsender TRT Sendungen in den Minderheitensprachen ausgestrahlt. Die Staatssicherheitsgerichte wurden abgeschafft und Prozesse von politischen Häftlingen neu verhandelt. Auch wurde der Einfluss des Militärs auf die Politik reduziert: Der Vorsitzende des Nationalen Sicherheitsrats ist nun ein Zivilist und die
Militärausgaben wurden der parlamentarischen Kontrolle unterstellt.

Nachdem der Reformeifer in der letzten Zeit nachgelassen hat, fordern wir die türkische Regierung auf, auf einen überzeugenden Reformkurs zurück zu kehren. Die noch immer gravierenden Mängel bei den bürgerlichen Freiheiten, beim Minderheitenschutz und bei den Rechten der Frauen müssen genauso abgeschafft werden wie der mittlerweile modifizierte Paragraph 301, der die Beleidigung des Türkentums unter Strafe stellt. Mit der Aufnahme der Beitrittsverhandlungen ist die türkische Regierung eine internationale Verantwortung eingegangen, der sie jetzt gerecht werden muss.
Die EU-Kommission hat für die Türkei den bislang strengsten Rahmen für Beitrittsverhandlungen vorgeschlagen; er bietet eine solide Grundlage für faire Beitrittsverhandlungen. So können die Verhandlungen beispielsweise jederzeit unterbrochen werden, wenn die EU eine schwerwiegende Verletzung von Freiheit, Demokratie, Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit feststellt. Auch ist das Kriterium der Aufnahmefähigkeit der EU in den Verhandlungsrahmen aufgenommen worden. Es ist vereinbart, dass die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei erst dann abgeschlossen werden sollen, wenn der neue Finanzrahmen der Europäischen Union für den Zeitraum nach 2014 beschlossen ist. Allen Beteiligten ist klar, dass in diesem Finanzrahmen die EU-Agrar- und die Strukturpolitik massiv reformiert sein müssen, bevor die Türkei der EU beitreten kann.
Wer zudem trotz bereits massiv erzielter Fortschritte glaubt, die Türkei könne mit Hilfe der EU und internationaler Finanzinstitute wie dem IWF ihre wirtschaftlichen Probleme in einer Zeitspanne von 10 bis 20 Jahren nicht in den Griff bekommen, ignoriert die Erfahrungen bisheriger Beitritte.

Bezüglich der finanziellen Folgen eines türkischen EU-Beitrittes wird häufig über massive Transfers an die Türkei aus dem EU-Haushalt spekuliert. Doch berücksichtigen die Zahlen weder die Zahlungen von mehreren Milliarden Euro, die die Türkei selbst nach einem Beitritt jährlich an den EU-Haushalt abzuführen hätte, noch den Handelsüberschuss, den die EU und vor allem Deutschland in der Regel im Handel mit der Türkei erzielen. Dass die Türkei die 1996 in Kraft getretene Zollunion ohne eine ernsthafte Finanzhilfe der EU verwirklicht hat (die fest zugesagt war), stellt wahrscheinlich den besten Beweis für die Anpassungsfähigkeit der türkischen Wirtschaft dar.

Wenn man als jüngstes Beispiel Polen mit seinen 40 Millionen Einwohnern zum Vergleich heranzieht, so erhielt es bis Ende 2006 jährlich netto nie mehr als drei Milliarden Euro. Es ist also bei der Türkei – selbst unter Annahme gleich bleibender EU-Politiken, also ohne Reformen in den nächsten zehn Jahren – mit einem jährlichen Nettotransfer von maximal 6 bis 8 Milliarden Euro auszugehen, eher weniger.

Die bisherigen Erweiterungsrunden der EU beruhten nicht auf geografischen Grenzen, sondern auf politischen Erwägungen. Der Begriff „europäischer Staat“ in Artikel 49 EUV, der den Beitritt regelt, wird nach vorherrschender Auffassung nicht allein durch geografische Kriterien definiert. Die Beurteilung, ob ein Beitrittskandidat dem Kriterium des „europäischen Staates“ gerecht wird, liegt letztlich in der politischen Entscheidung der Mitgliedstaaten der EU. Und da die Mitgliedstaaten schon kurz nach Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft der Türkei im Assoziierungsabkommen von 1963 die Möglichkeit eines späteren Beitrittes vertraglich zugesichert haben, ist der Streit um die geografische Lage der Türkei längst entschieden, was in den Folgejahren mehrfach bestätigt wurde. Die Türkei ist – nebenbei bemerkt – nicht das erste bzw. einzige Land, gegen dessen Beitritt „europäische Werte“ ins Spiel gebracht wurden. Auch gegen Großbritannien wurde zwei Mal ein Veto eingelegt mit Argumenten, die auf verblüffende Weise den Argumenten ähneln, die gegen den Beitritt der Türkei ins Spiel gebracht werden: „Der Vertrag von Rom wurde zwischen sechs kontinentalen Staaten geschlossen, von Staaten, die wirtschaftlich gesehen, wie man wohl sagen kann, den gleichen Charakter haben … Großbritannien ist … ein insulares, ein maritimes Land. … Die Natur, die Struktur und die Konjunktur, die Großbritannien eigen sind, unterscheiden sich zutiefst von denen der kontinentalen Länder“.

Mit freundlichen Grüßen

Das Büro-Team von Claudia Roth

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