Frage an Claudia Roth von Ursula N. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Sehr geehrte Frau Roth,
haben Sie eine Idee, warum es in den allermeisten Fällen immer wieder türkische Migranten sind, die im Migrationsprozess eher unangenehm auffallen?
Offenbar sind diese Probleme wie Schulbildung, Erlernen der deutschen Sprache und Eingliederung in das Gemeinwesen bei anderen Migrationsgruppen, selbst wenn diese nicht unserem Kulturkreis entstammen, wesentlich weniger vorhanden.
Üblicherweise sollte es doch so sein, da z. B. türkische Familien nicht wegen der Gefahr um Leib um Leben fliehen, dass man sich im Vorfeld einer Auswanderung mit der jeweiligen Landessprache vertraut macht und diese auch den Kindern vermittelt. Es kann doch nicht angehen, dass Kindergärten und Schulen die eigentlichen Aufgaben der Eltern (und hier meine ich nicht nur türkische Eltern) übernehmen müssen und somit Lernprozesse behindert werden.
Gibt es ein Modell, dass z. B. Eltern, deren Kinder beim Eintreten in den KiGa oder die Schule Sprachkurse für ihre Kinder finanzieren müssen? Vielleicht würde diese finanzielle Maßnahme diesen m. E. verantwortungslosen Eltern etwas Anschub geben? Leider funktioniert vieles erst dann, wenn man mit Zugriff auf das eigene Portemonnaie droht. Möglicherweise ist für viele Menschen Deutschland ein Paradies, weil man dort sogar Geld bekommt, wenn man gar nicht arbeitet. Evtl. liegen hier Missverständnisse vor?
Kann es evtl. mit der Lehre des Islam zusammenhängen, dass diese Differenzen auch bei arabischen und anderen Migranten die aus islamischen Ländern kommen sehr verbreitet sind?
Als Letztes möchte ich Sie noch fragen, ob Sie eine Idee haben, warum, und dies gerade im Zusammenhang mit der Jugendkriminalität, die Abschiebung in die Türkei fürchten? Ist die Türkei so grässlich, dass man sich davor regelrecht fürchten muss oder mag es daran liegen, dass gerade Jugendliche in Deutschland weniger Strafe zu fürchten haben als in ihrer Heimat?
Ihrer Nachricht sehe ich gerne entgegen.
Vielen Dank und freundliche Grüße
Ursula Nurkowski
Sehr geehrte Frau Nurkowski,
viele der von Ihnen formulierten Fragen und Vermutungen stehen seit langem im Visier von soziologischen Studien und Projekten. Die ernst zu nehmenden wissenschaftlichen Studien haben auf die üblichen Mythenbildungen und Vorurteile, wie sie auch in Ihren Fragen zum Vorschein kommen, erschöpfende Antworten gegeben. Aber einige, darunter eine relevante Größe von Politikern, halten an bestimmten Vorurteilen und lieb gewonnenen „Kampfthemen“ immer noch fest.
Bei aller Heftigkeit der Debatten in Deutschland muss immer wieder klar gestellt werden, dass wir nicht über „Ausländer, Gäste und fremde Jugendliche“ reden, sondern über Inländer. Die Rede von Gästen und wie sie sich beim Gastgeber zu benehmen haben, ist ein Ritual der Nicht-Akzeptanz und Ignoranz der Realitäten hierzulande. Mit dem Dogma "Deutschland ist kein Einwanderungsland" stellt man sich ins politische Abseits ohne jegliche Gestaltungsmöglichkeiten. Dass auch die aktuelle Bundesregierung diese Tatsache anerkannt hat, lässt sich an Veranstaltungen wie dem Integrationsgipfel und den Islamkonferenzen ablesen. Integrationspolitik war jahrzehntelang kein Begriff für die meisten Unionspolitiker, entsprechend fanden kaum Integrationsmaßnahmen unter früheren Unions-Regierungen statt. Eine umfassende Bildungsförderung für Einwanderer gab es in den achtziger und neunziger Jahren nicht - wozu auch, wenn die Familien wieder zurückkehren sollten. Hier liegt eine der Ursachen der heutigen Bildungsmisere und Perspektivlosigkeit unter den Jugendlichen aus Einwandererfamilien. Mittlerweile hat ein Großteil der gestrigen Realitätsverweigerer bereits verstanden, dass die so genannten Jugendlichen mit Migrationshintergrund nirgendwohin zurückgehen bzw. zurückgeführt werden können - wenn überhaupt, dann vielleicht in ihr Geburtsstädtchen in der hessischen, bayerischen, baden-württembergischen Provinz oder die bekannten Bezirke von Berlin und Hamburg. Diese Jugendlichen sind Jugendliche dieses Landes, welcher Herkunft sie bzw. ihre Eltern auch sein mögen. Auch mit dem Nebelbegriff „Migrationshintergrund“ im Sprachgebrauch, der ja nichts anderes ist als ein Spiegel des Denkens, drücken sich viele Politiker und Behörden weiterhin um die Konsequenzen der Einwanderung: dass nämlich die deutsche Staatsangehörigkeit nicht mehr als altes Blutrecht definiert wird, sondern auch als neu gewähltes, neu begründetes Staatsbürgerrecht, in dem ständige aussondernde Verweise auf ethnische, kulturelle oder religiöse „Hintergründe“ fehl am Platz sind.
Die Ethnisierung der Kriminalität und der sozialen Probleme verfolgt offensichtlich die Absicht, vom eigenen Versagen abzulenken und rassistische Ressentiments in bestimmten Segmenten der Gesellschaft zu bedienen. Ständig die ethnische Herkunft der Täter, ihre Religion oder die Staatsangehörigkeit ihrer Eltern in den Vordergrund zu stellen und mit Ausweisungsfantasien dem Problem Herr werden zu wollen, geht an den Realitäten unserer Gesellschaft vorbei und ignoriert rechtsstaatliche Normen im Umgang mit Menschen und ihren Bürger- und Menschenrechten. Die türkeistämmigen Einwanderer stellen die größte Einwanderergruppe. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass Integrationsdefizite in dieser Gruppe entsprechend auffallen. Es geht nicht um türkische Familien, die wegen Gefahr um Leib und Leben fliehen müssten, sondern um Familien, die kein anderes Land außer Deutschland kennen und deren Kinder Kindergärten und Schulen in Deutschland besucht haben. Es ist Konsens unter Bildungsexperten, dass Schwierigkeiten im Lernprozess nichts mit der ethnischen, wohl aber mit der sozialen Herkunft und sozioökonomischen Lage der Familie zu tun haben.
Auch Integrationsbereitschaft bzw. Integrationsfähigkeit hat laut empirischen und wissenschaftlichen Studien wenig mit der religiösen oder ethnischen Herkunft zu tun, aber um so mehr mit der sozialen Lage und den Bildungsverhältnissen der Betroffenen. Je bildungsferner die Menschen, desto intensiver und individueller sind die Integrationsmaßnahmen zu planen und zu realisieren. Deshalb gibt es verschiedene Modelle, wie die von Ihnen erwähnten Sprachkurse organisiert und finanziert werden. Ein allgemeingültiges Rezept würde sich angesichts der Vielfalt von Problemlagen nicht empfehlen. Es gibt auch kein Paradies, in dem alles kostenlos und ohne Anforderungen zu haben ist.
Eine Abschiebung von kriminellen Jugendlichen, in diesem Falle, in die Türkei ist in meisten Fällen deshalb abwegig, weil diese Jugendlichen deutsche Jugendliche sind und das Land Türkei höchstens von ihren Urlaubsreisen kennen. Die Verhältnisse in den türkischen Gefängnissen spielen hierbei keine Rolle. Denn die Politik kann ihr eigenes Versagen nicht damit wettmachen, indem sie diese Jugendlichen als Sündenböcke wortwörtlich und symbolisch in die Wüste schickt.
Mit freundlichen Grüßen
Das Büro-Team von Claudia Roth