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Claudia Roth
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Frage von Jan S. •

Frage an Claudia Roth von Jan S. bezüglich Innere Sicherheit

Sehr geehrte Frau Roth,

in letzter Zeit stelle ich mit großer Sorge fest, dass die Menschen in meiner Umgebung immer öfter die Furcht vor einer beschleunigten Islamisierung Europas und speziell Deutschlands, offen äußern. Ich bemerke, dass dadurch das Klima in unserer Gesellschaft, immer eisiger wird.

Meine Fragen an Sie lauten deswegen:

1. Sehen Sie auch die Tendenz der Islamisierung?

Wenn Ja:

2. Erkennen Sie diese als Gefahr für den sozialen Frieden in unserem Land an?

3. Und von welchen Organisationen wird diese, betrieben bzw. unterstützt?

4. Und was unternehmen Sie / Ihre Partei, um dieser Entwicklung entgegenzuwirken?

Wenn Nein:

1. Wie erklären Sie sich das schlechte Image des Islam weltweit?

2. Wie sehen Sie die Entwicklung des Islam in der Zukunft?

3. Ist der Islam demokratiefähig?

MfG: J. Sobieski

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Antwort von
Bündnis 90/Die Grünen

Guten Tag Herr Jan Sobieski,

mit Ihrem Namen verbinden sich ja große historische Begebenheiten. Denn Jan Sobieski hieß auch der „Sieger vom Kahlenberg“, der Oberbefehlshaber des deutsch-polnischen Entsatzheeres, das 1683, während der zweiten türkischen Belagerung von Wien das osmanische Heer besiegte. Aber sicher ist die Namensdoppelung reiner Zufall. Deshalb möchte ich auch gleich zu Ihrer Befürchtung kommen, wir stünden vor einer „Islamisierung Europas“.

Meines Erachtens ist die Rede von der „Islamisierung Europas“ ein Schlagwort einiger Empörungsprofis und Panikmacher, das man sich nicht zu Eigen machen sollte. Es wird verwendet von einer Allianz von nationalistischen, rechtsextremistischen, christlich-fundamentalistischen und islamophoben Kräften in Europa, sekundiert von zahlreichen selbsternannten Islam- und Terrorexperten. Dabei wird versucht, einen einheitlichen, homogenen, weltumspannenden und gewalttätigen Islam zu konstruieren, um daraus in aller Eile politisches Kapital zu schlagen.

Bezogen auf Deutschland werden zum Beispiel aus Türken Muslime und die Religion zu ihrem primären Identitätsmerkmal gemacht. Die Integrationsdebatte wird dabei hemmungslos „religionisiert“, sprich: islamisiert. Die Tatsache, dass die übergroße Mehrheit dieser Menschen lange vor der Entdeckung der „Islamisierungsgefahr“ in Europa gelebt hat, wird bewusst ignoriert. Und dass die vorwiegend konservativen Politiker, die Jahrzehntelang vollkommen blind waren für Integrationsfragen und stattdessen von „Gastarbeitern“ gesprochen haben – also von „Gästen“, die nur vorübergehend da sind - das wird auch nicht erwähnt.

Wir haben in Europa stabile Demokratien, die auf rechtsstaatlichen Prinzipien basieren. Diese Prinzipien werden durch die Inanspruchnahme von fundamentalen Rechten wie Meinungs-, Glaubens- und Religionsfreiheit gerade nicht verletzt. Dass die europäischen und in Europa lebenden Muslime eine volle Gleichberechtigung mit anderen Religionsgemeinschaften erwarten, ist legitim und ganz im Sinne der europäischen Menschenrechtskonvention und der europäischen Antidiskriminierungsrichtlinien. Die eigentliche Bedrohung Europas besteht nicht darin, dass Muslime mit gutem Recht gleiche Rechte fordern, sondern darin, dass manche Innenpolitiker wichtige Grundrechte abschaffen oder einschränken würden. Das platte Islamisierungsgeschrei will keine Stärkung der Rechtsstaatlichkeit und der Gewährleistung von demokratischen Grundrechten, sondern eine Rückkehr in das Europa der Voraufklärungszeit, verbunden mit einer selektiven Anwendung von Recht und Gesetz.

Zweifelsohne ist der internationale Terrorismus, auch seine islamistische Ausformung, zurzeit eine der wichtigsten Herausforderungen der internationalen Politik. Unsere Sicherheit haben wir in Europa nicht zuletzt einer Rechtsstaatlichkeit zu verdanken, die - wie die bisherigen Erfahrungen es belegen - verantwortungsvoll und erfolgreich mit jeder terroristischen Bedrohung umgehen kann. Wir dürfen keines von unseren Grundrechten im Namen des Schutzes dieser Rechte aufgeben, auch wenn manche Sicherheitspolitiker und ihre feuilletonistischen Begleiter uns das so weiß machen wollen. Die Logik, Rechte aufgeben, um sie zu retten, ist grotesk!

Das schlechte Image der politischen Systeme in den meisten islamischen Ländern hat meines Erachtens wenig mit der Religion Islam zu tun. Diese Staaten in Asien, in Nordafrika, dem Mittleren und Nahen Osten sind undemokratische oder scheindemokratische Regimes, die jede Erneuerung des politischen und gesellschaftlichen Systems verhindern, bekämpfen, ja repressiv unterdrücken. Am Beispiel dieser Länder lässt sich gut beobachten, dass viele gesellschaftspolitische Kräfte mit einem religiösen Hintergrund sehr wohl politische Bewegungen darstellen, die gegen das undemokratische Herrschaftssystem opponieren. Sie streben gesellschaftliche Selbstbehauptung an, ohne einen gemeinsamen Nenner im Islam zu finden. Bedauerlich ist, dass viele dieser Regimes aus sicherheits- oder wirtschaftspolitischen Überlegungen heraus in ihrem unterdrückerischen Verhalten von den westlichen demokratischen Regierungen unterstützt werden. Das ist kein positiver Beitrag zur Glaubwürdigkeit und Konsequenz in Fragen von Menschenrechten, Rechtsstaatlichkeit und demokratischen Prinzipien.

Die einzige für alle Muslime zutreffende allgemeine Bestimmung, das Bekenntnis zum alleinigen Gott, ermöglicht kein allgemein gültiges Rezept für den Umgang mit islamischen und islamistischen Kräften. Bestimmend sind die historischen und gesellschaftlichen Kontexte, in denen diese islamischen bzw. islamistischen Kräfte national und transnational agieren und kommunizieren. Die Formulierung politischer Geltungsansprüche in Namen des Islam stellt nur einen Teilmoment der gesellschaftspolitischen Prozesse in diesen Ländern dar. Mit Heilversprechungen und karitativen Werken können diese Kräfte die Gesellschaft mobilisieren, doch weder der Ruf nach dem islamischen Staat noch der nach Wiedereinführung der Scharia kann über die Uneinheitlichkeit und Widersprüchlichkeit ihrer politischen Ziele und gesellschaftlichen Ordnungsvorstellungen hinwegtäuschen. Die Präzisierung dieser Vorstellungen erfolgt in erster Linie in Abhängigkeit von lokalen politischen und gesellschaftlichen Kontexten. Wenn Islamisten an die Macht kommen oder sich in die bestehende politische Strukturen wie Parlamente einfügen, ist eine selektive Einbeziehung islamischer Vorstellungen möglich. Aber im Kampf um Interessen droht die Religion zum Opfer der Politik zu werden, was in Iran oder Saudi Arabien bereits der Fall ist. Wir dürfen muslimische Gesellschaften nicht islamischer ansehen als sie sind. Islam ist nicht ihr alleiniges Identitätsmerkmal und die Bezeichnung „islamisch“ schafft kein entsprechendes Wesen. Politik muss aber auch islamische Organisationen primär als Organisationen und ihre politischen Ziele eben als politische behandeln. Eine spezifisch auf den Islam bezogene Politik kann es nicht geben. Denn die Begriffe Islam und islamisch geben keine Auskunft darüber, was Muslime wollen. Sie bieten keine ausreichend gesicherten Anhaltspunkte für politische Erwartungen. Weder Islam noch Islamismus sind als Akteure zu behandeln. Unsere Politik sollte zuallererst die Interessen der islamischen Organisationen in den Blick nehmen. Auch Muslime machen interessengeleitete Politik und richten sich weit mehr an der globalen Realität aus als es die auf Islam und Islamismus fixierte Wahrnehmung zu erkennen vermag. Natürlich darf es keine vorauseilende Berücksichtigung des „Islamischen“ geben. Denn sie würde Gefahr laufen, selbstkonstruierten negativen oder positiven Islamvorstellungen aufzusitzen. Allgemeine Debatten über die Demokratiefähigkeit des Islam bringen uns nicht weiter. Die Frage nach Demokratie, Marktwirtschaft und Rechtsstaatlichkeit ist an spezifische muslimische Akteure zu richten und im Kontext der politischen und gesellschaftlichen Situation dieser Akteure zu erörtern.

Mit freundlichen Grüßen

Claudia Roth

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