Frage an Claudia Roth von Mehtap D. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Sehr geehrte Frau Roth,
erstmal möchte ich Ihnen auf diesem Weg für Ihr Engagement in Fragen der Integration danken. Als junge, in Deutschland aufgewachsene Muslima weiß ich es sehr zu schätzen, daß Sie sich immer wieder zur Fürsprecherin einer Toleranz zwischen den Religionen machen und damit auch zu einer besseren Kenntnis des Islam in der Bevölkerung beitragen. Wie sollte man sonst die Schönheit unserer Religion zu schätzen lernen, wenn der Blick immer wieder durch eine unfaire Berichterstattung und Vorurteile getrübt wird?
Leider habe auch ich immer wieder mit Vorurteilen zu kämpfen, die mir das Herz schwer machen. Viele Menschen in Deutschland wollen nicht respektieren, daß ich das Kopftuch trage. Das ist verletzend. Sie, Frau Roth, wissen natürlich, daß das Kopftuch kein Instrument der Unterdrückung ist und auch nicht einer demokratischen Grundordnung widerspricht. Ich trage es freiwillig - aus Liebe zu meiner Religion und weil ich mich vor den Blicken der Männer schützen will. In Deutschland wird ja oft ein Übermaß an Freiheit propagiert: die Freiheit, sich mit beliebig vielen Männern abzugeben, sich indezent zu verhalten und zu kleiden... Ich bin zu der Überzeugung gekommen, daß nur der Schutz der Würde der Frau ihr wahre innerliche Freiheit beschert. Ich empfinde es so, daß das Kopftuch mich frei macht und mir zu mehr Respekt verhilft. Ich finde, daß Frauen die Möglichkeit haben sollten, ihre Würde zu schützen, ohne daß sie beschimpft und diskriminiert werden. Deshalb frage ich Sie: Sehen Sie das genauso? Wäre es nicht sinnvoll, wenn die Grünen dazu beitragen würden, daß die Vorurteile gegen das Kopftuch weiter abgebaut werden? Könnten Sie sich vorstellen, sich positiv über diesen Aspekt des Islam zu äußern? Ich bin sicher, daß die Muslime in Deutschland Ihnen für eine solche Stellungnahme sehr dankbar wären.
In Erwartung einer Antwort und mit herzlichen Grüßen
Mehtap
Sehr geehrte Frau Demir,
in der politischen Kopftuchdebatte sollten nicht persönliche Empfindungen zum Kopftuch oder gar positive bzw. negative Aspekte einer Religion im Mittelpunkt stehen, sondern der Anspruch, unsere eigene Verfassung ernst zu nehmen und der Versuch, bei der Umsetzung verfassungsrechtlicher Vorgaben glaubwürdig zu bleiben. Entscheidend ist, dass Frauen selbstbestimmt leben und ihr Leben selbstbestimmt gestalten können. Rahmenbedingungen dafür zu schaffen, ist immer noch eine große Herausforderungen für die deutsche Politik. Dazu zählen eine umfassende Gleichstellung von Frauen und Männern, gleiche Bildungschancen für Mädchen und Jungen und eine konsequente Antidiskriminierungspolitik. Das würde auch muslimischen Frauen die Möglichkeit geben, frei zu entscheiden, ob sie das Kopftuch tragen oder es ablegen wollen.
Acht Bundesländer haben inzwischen ihrem Lehrpersonal gesetzlich verboten, im Unterricht das Kopftuch zu tragen. Begründung: Gefährdung der staatlichen Neutralität. Von diesen Verboten sind christlich motivierte Kleidungsstücke jedoch ausgenommen. Diese offensichtliche Schlechterstellung von kopftuchtragenden Musliminnen widerspricht eindeutig der Verfassung. Das Grundgesetz legt eine staatliche Pflicht zur Gleichbehandlung aller Religionsgemeinschaften fest. Zwar wird gerade in der Auseinandersetzung mit dem Islam gerne auf die christliche Prägung Deutschlands hingewiesen. Das Grundgesetz kennt aber weder Staatsreligion noch die Bevorzugung einer Religion. Es garantiert im Artikel 3 die Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz.
Die These, dass das Kopftuch für Islamismus und Frauenunterdrückung stehe, mithin also als politisches Symbol gegen die Werte der Verfassung verstoße, ist so pauschal nicht haltbar. Denn das Kopftuch ist nicht per se islamistisch, ebenso wenig ist es immer und allenthalben ein Zeichen für die Unterdrückung muslimischer Frauen. Auch in islamischen Ländern mit autoritären, nicht-demokratischen oder diktatorischen Regimes beobachten wir engagierte, selbstbewusste und freiwillig kopftuchtragende Frauen, die das patriarchale System und die Vormachtstellung der Männer herausfordern.
Mir ist aber auch bewusst, dass viele muslimische Frauen das Kopftuch nicht freiwillig tragen. Und auch in meinen Augen drückt das Kopftuch eine Vorstellung von Geschlechterdifferenz aus, die leider sehr häufig mit der Vorstellung einer Vorrangstellung der Männer einhergeht. Ein hierarchisches Geschlechterverständnis lehne ich ab, sehe darin aber keinen ausreichenden Grund für eine Regelung, die einem Berufsverbot für kopftuchtragende Lehrerinnen gleichkommt. Die Rechte von Frauen lassen sich nicht dadurch stärken, dass sie eingeschränkt werden.
Im Übrigen gibt es nicht nur im Islam, sondern auch in allen Weltreligionen konservative Geschlechtervorstellungen, die in einem Spannungsverhältnis zur grundgesetzlichen Gleichheit von Frau und Mann stehen. So sind etwa im Katholizismus Frauen vom Priestertum ausgeschlossen. Und in vielen Fällen ist es nicht so sehr eine Religion, die Frauen benachteiligt, als vielmehr die patriarchale Grundstruktur der Gesellschaft, die sich in ganz unterschiedlichen Kulturkreisen wiederfinden lässt.
Der Staat könnte das traditionelle Geschlechterverständnis der meisten Religionen zwar zum Anlass nehmen, gleich alle religiösen Symbole, Kleidungsstücke und sonstigen religiös motivierten Verhaltensweisen in der Schule und anderen staatlichen Institutionen zu verbieten. Doch aus meiner Sicht wäre eine solche rigide Haltung überzogen. Religion ist zwar Privatsache, das bedeutet aber nicht, dass sie unsichtbar werden muss, wenn ein öffentlicher oder staatlicher Raum betreten wird.
Das Grundrecht der Religionsfreiheit schützt den Einzelnen vor staatlichen Beschränkungen und garantiert damit auch den Schutz von Minderheiten. Es ist deshalb höchst fragwürdig, dieses Grundrecht gerade dann einzuschränken, wenn auch Muslime es in Anspruch nehmen wollen. Es ist ein Gebot der Fairness, dass der Staat sich gegenüber den Religionen neutral verhält, und nicht eine gegenüber der anderen benachteiligt. .
Frauen haben selber zu entscheiden, was die angemessene und richtige Kleidung für sie ist. Politisch, ideologisch und religiös begründete Kleidungsvorschriften für Allgemeinheit gibt es in den Ländern, die keine Demokratien sind oder über keine stabilen rechtsstaatlichen Institutionen verfügen. Kleidungsvorschriften stellen einen Eingriff in die Selbstbestimmungsrechte von Frauen dar. Das Tragen des Kopftuchs als ganz persönliche Entscheidung von Frauen verdient genauso unseren Respekt wie die Entscheidung, das Kopftuch abzulegen. Damit Frauen diese Entscheidung wirklich selbst fällen können, muss eine konsequente und auf Dauer angelegte Aufklärungsarbeit geleistet werden. Darum unterstützen wir zum Beispiel auch den Kampf der iranischen Frauen gegen die Kleidungsvorschriften der Islamischen Republik Iran.
Mit freundlichen Grüßen
Claudia Roth