Frage an Christian Lindner von Dirk B. bezüglich Bildung und Erziehung
Sehr geehrter Herr Lindner,
die aktuelle Diskussion – oder eher Nichtdiskussion – der Politik über die Situation von Familien macht sprachlos. Seit Wochen unterstützen wir alle Corona-Maßnahmen und halten sie auch für sinnvoll. Doch wenn darüber geredet wird, was Familien aktuell leisten, wird man entweder beschimpft (Eltern wollen Kinder nur abschieben, andere Generationen hätten sich auch um Kinder ohne Kindergarten gekümmert) oder es wird alles abgetan.
Homeschooling haben wohl die wenigsten Eltern in früheren Zeiten nebenbei gemacht. Außerdem Kindern standen andere sozialen Kontakte offen und sie konnten sich draußen frei bewegen.
Die Situation belastet Kinder. Sie brauchen mehr Aufmerksamkeit als sonst. Unser Sohn (4 Jahre) steht zum Beispiel weinend mit dem Mundschutz aus seinem Arztkoffer an der Tür, weil er nicht wie früher mit zum Einkaufen darf. Auch unsere Tochter bricht öfter in Tränen aus als sonst.
Meine Tochter (9 Jahre) kann mit Freunden über Telefon und eine Software, die die Schule eingeführt hat, Kontakt halten.
Für unseren Vierjährigen sind alle Kontakte (Turnstunde, Kindergarten, Tanten, Omas und Cousins,) ersatzlos weggebrochen – er ist zu jung, um das per Telefon oder andere Medien auszugleichen.
Und noch einmal: Ich kann die aktuellen Maßnahmen verstehen, wir möchten keine Erzieher oder Lehrer oder andere anstecken. Aber: Es wäre schön, wenn die Herausforderungen, die die Eltern seit Wochen leisten – und vermutlich noch für Monate leisten müssen – anerkannt würden.
Mein Mann und ich arbeiten 14 Stunden pro Tag im fliegenden Wechsel im Homeoffice. Wir stehen permanent unter Strom, weil wir ständig mit einem Auge auf unsere E-Mails schielen und gleichzeitig eine sinnvolle Kinderbetreuung bieten möchten. Wir nehmen max. eine Mahlzeit am Tag mit allen Familienmitgliedern ein. Gemeinsame Spaziergänge oder Radtouren sind nur am Wochenende drin. In einer „Vor-Corona-Arbeitswoche“ haben wir deutlich mehr gemeinsame Zeit
Meine Kollegen auf der Arbeit verabschieden sich gegen 17 Uhr zum Joggen. Ich schlafe um 20:30 Uhr bei den Kindern ein und hatte bis dahin kaum Zeit für mich. Ich muss dann aber aufstehen, um noch Hausarbeit zu erledigen oder noch für das Büro zu arbeiten.
Auf Dauer geht es nicht, ohne Arbeitszeit zu reduzieren – aber dann fehlt das Geld um den Sportverein, den Musikunterricht, Mitgliedschaften usw. weiter zu bezahlen – und gerade diese sind ja auch darauf angewiesen, dass ihnen nicht alle Zahlungen wegbrechen.
Meine Frage: Was ist Ihre Antwort für die Millionen von Familien, die vor den gleichen– oder noch größeren Herausforderungen stehen – und Unterstützung benötigen?
Sehr geehrter Herr Berninger,
haben Sie vielen Dank für Ihre Frage und Ihre eingehenden Schilderungen.
Ich habe großen Respekt vor dem, was Sie und andere Familien dieser Tage leisten und durchstehen müssen. Die Belastung für Kinder und Familien und die Bedrohung wirtschaftlicher Existenzen durch den Wegfall von Kindertagesbetreuung finden in der öffentlichen Debatte viel zu wenig Raum - ganz zu schweigen von den vielen Kindern, die zu Hause keine angemessene Betreuung erhalten und deren Familien den Problemen dieser Tage nicht so souverän begegnen können wie Sie. Die enormen sozialen Folgeschäden der aktuellen Situation werden viel zu selten diskutiert und finden sich in der Abwägung um adäquate Restriktionen nicht in angemessenem Maße wieder.
Wir müssen nun die Krisenstrategie verändern: Nicht jede Maßnahme, die zu Beginn der Pandemie notwendig war oder aus Vorsicht verhängt wurde, ist jetzt noch verhältnismäßig oder hat sich in ihrer Wirksamkeit bestätigt. Eine Neubewertung ist angesichts der massiven Grundrechtseinschränkungen geboten. Das Gesundheitssystem ist alarmiert, die Menschen sensibilisiert, Versorgungslücken werden geschlossen und unser Wissensstand über das Virus wächst mit jedem Tag.
Deshalb sehe ich die aktuellen Beschlüsse der Bundeskanzlerin und der Ministerpräsidenten kritisch. Entscheidend ist meiner Meinung nach nicht, was geöffnet und was geschlossen ist. Sondern entscheidend ist, ob überall die Hygieneregeln eingehalten werden können. Es hätten längst Blaupausen für Schutzkonzepte in vielen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens vorliegen können, hätte sich die Bundesregierung einer Diskussion über Öffnungsstrategien nicht bis vor wenigen Tagen verweigert. Unverhältnismäßige Einschränkungen des Versammlungsverbots, willkürliche Größenbeschränkung im Einzelhandel und eben auch die Konzeptlosigkeit im Bereich der Bildung und Kinderbetreuung wären also vermeidbar gewesen.
Für das weitere Vorgehen wäre eine interdisziplinäre Expertenkommission sinnvoll, die den Regierungen in Bund und Ländern wöchentliche Einschätzungen vorlegt. Eine Neubewertung der Lage erst Ende April halte ich gegenwärtig für absolut unzureichend. Hier geht übrigens Nordrhein-Westfalen voran, wo die schwarz-gelbe Landesregierung eine solche Kommission eingesetzt hat, die Vorschläge für intelligente Öffnungsstrategien entwickelt.
Klar ist: Die Schwere der Auswirkungen auf Gesellschaft, soziale Strukturen und wirtschaftliche Existenzen entscheidet sich mit der Frage, wie lange die gegenwärtigen Einschränkungen anhalten. Ich plädiere weiterhin für eine flexible, stufenweise und risikoadäquate Öffnungsperspektive zum Hochfahren unseres öffentlichen Lebens. Es ergibt doch keinen Sinn einen Shutdown für Deutschland insgesamt zu verhängen - wir müssen viel stärker regional gegen Infektionsketten vorgehen und notfalls temporär und lokal einzelne Verschärfungen wieder einführen, um einzelne Ausbrüche wieder einzudämmen. Diese Haltung habe ich auch in meiner Erwiderung auf die jüngste Regierungserklärung der Bundeskanzlerin vertreten: https://dbtg.tv/fvid/7441882
Seien Sie versichert, dass wir auch weiterhin Maßnahmen überprüfen, unverhältnismäßige Einschränkungen identifizieren und uns für einen intelligenten und zielgerichteten Gesundheitsschutz unserer Mitbürgerinnen und Mitbürger einsetzen werden. Die speziellen Herausforderungen für unsere Familien werden wir hierbei genau im Blick behalten und nicht vergessen.
Ihnen und Ihrer Familie wünsche ich alles Gute - bleiben Sie vor allem gesund!
Freundliche Grüße
Christian Lindner