Frage an Christian Lindner von Johann P. bezüglich Bildung und Erziehung
Sehr geehrter Herr Lindner,
ich habe Angst!
Gestern eröffnete uns unser Ministerpräsident Herr Laschet, dass ich, als Teil des Abiturjahrgangs 2020, ab kommenden Donnerstag wieder in die Schule gehen solle. So beschloss man doch nicht nur in der Konferenz zuvor, die Schulen bis zum 04. Mai geschlossen zu halten, sondern ebenso einen gemeinsamen Weg einzuschlagen. Keiner dieser Beschlüsse findet sich in diesem frevelhaften, moralisch hochgradig fragwürdigen Alleingang wieder. Und das alles nur für vier Überprüfungen.
Fragen Sie sich nicht selbst, was da miteinander abgewogen wird, was von jedem einzelnen Schüler, aber auch von dem, ansonsten im Schulbetrieb notwendigen Personal, abverlangt wird? Die unzähligen Argumente möchte ich an dieser Stelle erst gar nicht mehr aufführen, da ich felsenfest davon überzeugt bin, dass Sie und alle weiteren Funktionäre mit diesen ohnehin schon mehr als vertraut sind. Vielmehr möchte ich Klarheit darüber, warum diesen Argumenten keinerlei Beachtung geschenkt wird. Warum man den Stolz über eine nichtige "Einigung" der Kultusminister über unser Wohl, unsere Gesundheit stellt? Wir Schüler fühlen uns machtlos, hintergangen. Ein mancher sogar aufgewühlt, wütend.
Dabei ist es wichtig zu betonen, dass jeder Einzelne von uns in einer extremst unterschiedlichen Lage steckt. Das Kollektiv ist aufgehoben; hypothetisch müsste man gerade jetzt die Individualität, den "Einzelfall" betrachten: Sozial benachteiligte, gesundheitlich vorbelastete, psychisch labile Schüler*innen. Solidarität, wie unsere Bundeskanzlerin verkündete, sei in diesen Zeiten doch besonders wichtig. Außer in der Bildungspolitik! So scheint es zumindest.
Ich weiß, Bildung liege in der Verantwortung der Länder. Dahinter haben wurde sich aber mitlerweile lange genug versteckt. Ihre Stimme hat nichtsdestotrotz zweifelsohne einen Stellenwert und Einfluss. Nutzen Sie bitte diese Stimme, um das zu tun was richtig ist!
Ich weiß von Freunden, deren Eltern Hochrisikopatienten sind. Auch meine Mutter und ich gehören zu den Risikopatienten. Ich weine jeden Tag mit dem Gedanken an Schule und Abitur. Lernen konnte ich kaum, geschweige denn sinnvoll und zielgerichtet. Vielleicht merken Sie selbst, dass das Angebot, freiwillig in die Schule zu gehen, nicht mehr ganz so freiwillig ist, wenn man genauer hinschaut, anstatt wegzuschauen. Inzwischen wird die Ungleichheit damit nur noch kritischer verschärft. Wir fühlen uns betrogen.
Wir bitten Sie: Helfen Sie uns! helfen Sie mir! Jemand muss dringend die Notbremse ziehen.
Ich wünsche Ihnen viele Grüße und vor allem Gesundheit
Johann
Sehr geehrter Herr Pretz,
haben Sie vielen Dank für Ihre Nachricht und Ihre persönlichen Schilderungen.
Ich nehme Ihre Sorge im Hinblick auf den Umgang mit den diesjährigen Abiturprüfungen sehr ernst. Es ist vollkommen unstrittig, dass die Gesundheit der vielen Abiturientinnen und Abiturienten, aber auch der anderen Schüler in der aktuellen Situation das oberste Gebot sein muss.
Wissenschaftler wie Gérard Krause vom Helmholtz-Zentrum haben bestätigt, dass eine Schulöffnung unter strengen Hygienevorkehrungen und unter Einhaltung ausgereifter Schutzkonzepte durchaus vertretbar ist. Gerade bei einzelnen Prüfungen sind diese Schutzkonzepte freilich einfacher zu implementieren als in einem regulären Schulbetrieb.
Mittlerweile haben die 16 Kultusminister in der vergangenen Woche beschlossen, dass die Abiturprüfungen in diesem Jahr durchgeführt werden. Denn: Die Abiturprüfungen sorgen für eine Vergleichbarkeit der Noten und Chancengerechtigkeit für alle Schülerinnen und Schüler. Dieser Beschluss gibt unseren angehenden Abiturienten nun Planungssicherheit, um sich bestmöglich auf die Prüfungen vorbereiten zu können.
Wir verstecken uns in dieser Frage nicht hinter Länderzuständigkeiten. In Nordrhein-Westfalen stellen wir die Bildungsministerin. Dort beginnen die Hauptprüfungen ab dem 12. Mai. Dadurch haben Schülerinnen und Schüler drei Wochen mehr Zeit für die Vorbereitung, die Sie freiwillig und unter besonderen hygienischen Bedingungen auch in der Schule erledigen können. Dieses Angebot ist freiwillig, damit keine Schüler zu einer regelmäßigen Präsenz gezwungen werden, die selbst zu einer Risikogruppe zählen oder entsprechend betroffene Verwandte im eigenen Haushalt haben. Stattdessen aber die Möglichkeit zu einem risikoadäquaten Lernangebot auch für alle anderen Schüler zu streichen, hielte ich hingegen nicht für eine faire Vorgehensweise.
Die aktuelle Situation wird tagtäglich evaluiert, Maßnahmen für einen gesicherten Gesundheitsschutz von Schülern und Lehrern sind eingeleitet. Wir vertrauen daher voll und ganz, dass das Düsseldorfer Kultusministerium nach eingehender Prüfung und Berücksichtigung der vorliegenden Bewertungen und Faktenlage die für die Abiturientinnen und Abiturienten in dieser Situation richtige Entscheidung gefällt hat.
Die Corona-Krise stellt das Land aktuell auf eine harte Probe, der sich kaum jemand entziehen kann. Nur in enger Zusammenarbeit mit allen Entscheidungsträgern wird es uns auch gelingen, den aktuellen Herausforderungen in angemessener Weise zu begegnen.
Ich wünsche Ihnen und Ihrer Familie alles Gute - bleiben Sie gesund!
Mit besten Grüßen
Christian Lindner