Frage an Christian Lindner von Hans-Joachim K. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
War es bisher nicht Konsens der demokratischen Parteien, dass in der Regel die stärkste Partei -in Ausnahmefällen zumindest die zweitstärkste Partei den Regierungschef stellt?
Jedenfalls stellte in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland noch nie eine Partei mit 5% der Wählerstimmen den Regierungschef. Insofern ist es für mich nicht nachvollziehbar, welchen Sinn die Aufstellung von Herrn Kemmerich haben sollte, ausgenommen es gab Absprachen mit der AFD und der CDU.
Sehr geehrter Herr K.,
wir Freie Demokraten sind eine Partei der politischen Mitte. Wir stehen gegen die Ränder. In Thüringen hat Thomas Kemmerich dies durch eine Kandidatur gegen AfD und gegen Linkspartei symbolisch unterstreichen wollen. Dieses lautere Motiv ist leider in katastrophaler Weise in das Gegenteil verkehrt worden, als er mit Stimmen von CDU und AfD gewählt wurde.
Heute kann man klar sagen: Es war ein Fehler von Thomas Kemmerich, im dritten Wahlgang angetreten zu sein. Und es war insbesondere ein Fehler, das Amt des Ministerpräsidenten unter diesen Bedingungen angenommen zu haben. Dafür haben wir im Namen der Partei öffentlich um Entschuldigung gebeten.
Landesverband und Landtagsfraktion der FDP in Thüringen handeln in eigener Verantwortung. Aber viele von uns und auch ich selbst unterlagen einer Fehleinschätzung: Ich habe mir nicht vorstellen können, dass die AfD einen Kandidaten nur zum Schein aufstellt, um unser demokratisches System zu verhöhnen und zu chaotisieren. Das ist eine neue Qualität des destruktiven Potenzials dieser Partei und eine Herausforderung für alle Demokraten in der Zukunft. Im Wissen um das taktische Verhalten der AfD hätte ich Herrn Kemmerich von seiner nur symbolisch gemeinten Kandidatur abgeraten.
Wir tragen Verantwortung für die Lage in Thüringen und darüber hinaus für die Debatte in Deutschland. Und wir übernehmen auch die Verantwortung für diese Lage. In meiner ersten Reaktion am Mittwoch habe ich mein Amt als Parteivorsitzender daran gebunden, dass die FDP auf keiner Ebene mit der AfD kooperiert. Neuwahlen haben wir als erste ins Gespräch gebracht. Am Donnerstag bin ich nach Erfurt gereist, um mit Herrn Kemmerich und der Fraktion zu beraten. Weniger als einen Tag nach der Wahl hat er seinen Rückzug politisch fixiert und hat auf alle Bezüge verzichtet. Die Fraktion hat eine Initiative für die Selbstauflösung des Landtags vorgeschlagen. Die Freien Demokraten in Thüringen streben Neuwahlen an, um den Wählerinnen und Wählern wieder das Wort zu geben.
Die Ereignisse in Thüringen haben unsere Position zu AfD und Linkspartei bestätigt: keine Kooperation mit der AfD, keine Koalition mit der Linkspartei. Dass mir der FDP-Bundesvorstand am Freitag mit einem sehr starken Ergebnis das Vertrauen ausgesprochen hat, bestärkt mich in unserem gemeinsamen Wertekonsens. Wir haben in den Tagen danach gesehen, dass in anderen Parteien das Verhältnis zu AfD und Linkspartei neu diskutiert werden muss.
Aus unseren Grundwerten erklärt sich: Wir Freie Demokraten haben mit der AfD nichts gemein. Die AfD ist eine Partei, die völkisches Gedankengut pflegt, während wir eine liberale, eine an das Individuum glaubende Partei sind. Die AfD setzt auf Abschottung, wo wir für Weltoffenheit plädieren. Wir stehen in scharfem Kontrast zu dieser Partei. Deshalb ist es umso bedauerlicher, dass die klare Positionierung der FDP durch die Ereignisse der letzten Tage angezweifelt werden konnte. Dass nun in ganz Deutschland Kommunalpolitiker beschimpft, bedroht und teilweise sogar angegriffen werden und um das Wohl ihrer Kinder fürchten müssen, ist unerträglich. Wer andere Demokraten im Namen der Demokratie angreift, hat nichts verstanden.
Das destruktive Verhalten der AfD ist ein taktischer Angriff auf die politische Kultur und alle Parteien des demokratischen Zentrums unseres Landes. Wir sind alle gemeinsam gefordert, diese Angriffe der AfD zu bewerten und aufzuarbeiten, unsere Konsequenzen für die Zukunft daraus zu ziehen. Wir Freie Demokraten werden alles daran setzen, das Vertrauen der Menschen in Deutschland wieder zurück zu gewinnen.
Mit freundlichen Grüßen
Christian Lindner