Frage an Carola Reimann von Stefan L. bezüglich Soziale Sicherung
Sehr geehrte Frau Reimann,
die Armut in der BRD ist besonders bei Kindern und Jugendlichen auf dem Vormarsch. Ihr Kollege Prof. Karl Lauterbach vertritt in seinem neuen Buch die These, dass sich die Lebensumstände, in denen Kinder aufwachsen, auf den eigenen Lebensweg übertragen.
Deshalb frage ich Sie:
1. Was verstehen Sie im Allgemeinen unter „Armut“ in der BRD?
2. Wie stellt sich die Armut in Ihrem Wahlkreis und/oder Heimatort dar.
3. Können Sie (und wenn ja, wie) den Menschen vor Ort helfen.
Für eine Antwort wäre ich dankbar.
Mit freundlichen Grüßen
Stefan Linke
Sehr geehrter Herr Linke,
vielen Dank für Ihre E-Mail vom 20. Juni zum Thema Armut in Deutschland. Gerne nehme ich zu Ihren drei Fragen Stellung:
Der Begriff „Armut“ wird auf verschiedene Weise definiert und leider umfassen diese Definitionen die reale Armut nicht immer in vollem Umfang. Armut ist stets ein wichtiges, kontrovers diskutiertes Thema in der Politik und Wissenschaft. Selbstverständlich beteilige ich mich an dieser Diskussion. Um Armut in Deutschland effektiver bekämpfen zu können, hat die rot-grüne Bundesregierung am 25. April 2001 den ersten Armuts- und Reichtumsbericht vorgelegt, der zukünftig alle zwei Jahre erscheint und über die Lage in Deutschland informiert.
Wie im Armuts- und Reichtumsbericht zu Recht geschrieben steht, sind Armut und Reichtum als gesellschaftliche Phänomene untrennbar mit Werturteilen verbunden. Hinter jeder Interpretation des Armuts- und auch des Reichtumsbegriffs und hinter jedem darauf beruhenden Messverfahren stehen Wertüberzeugungen. In Gesellschaften wie der unseren liegt das durchschnittliche Wohlstandsniveau wesentlich über dem physischen Existenzminimum. Deshalb wird vom Bericht ein relativer Armutsbegriff verwendet, den auch ich für sinnvoll halte, wenn man die Situation in Deutschland beurteilen will. Armut wird hierbei als eine auf den mittleren Lebensstandard bezogene Benachteiligung aufgefasst. Deshalb wird die zwischen den EU-Mitgliedstaaten vereinbarte Definition einer „Armutsrisikoquote“ verwendet. Sie bezeichnet den Anteil der Personen in Haushalten, deren „bedarfsgewichtetes Nettoäquivalenzeinkommen“ weniger als 60% des Mittelwerts aller Personen beträgt. Wie ich bereits betont habe, ist relative Einkommensarmut jedoch kein universal gültiger Indikator für die Messung und Feststellung von Armut.
Die Festlegung des Anteils am Mittelwert, der die Armutsrisikogrenze definiert, ist zunächst eine bloß gesetzte Konvention. Maße relativer Einkommensarmut sagen vor allem etwas über die Einkommensverteilung aus, jedoch nichts über die Einkommensressourcen, die zur Befriedigung der notwendigen Bedürfnisse erforderlich sind. Deshalb bin ich auch der Überzeugung, dass eine indirekte Bestimmung der Armut wie etwa in Form der Einkommensarmut zu kurz greift, wenn andere Faktoren (wie Schulden, Gesundheit, Bildung, Arbeitslosigkeit) bei gleichem Einkommen einen jeweils unterschiedlichen Stellenwert besitzen.
Eine weitere Form der Armutsdefinition, auf die in Gesellschaften mit höherem durchschnittlichen Wohlstandsniveau zurückgegriffen wird, ist das sozio-kulturelle Existenzminimum. Es nimmt nicht nur die physische Existenz zum Bezugspunkt, sondern auch den Ausschluss von der Teilhabe am gesellschaftlich üblichen Leben. Diese Form der Armutsdefinition halte ich für sehr wichtig und sinnvoll. Sie ist im Sozialhilferecht definiert und abgesichert.
Die Inanspruchnahme von Sozialhilfe zeigt allerdings nur das Ausmaß, in dem Teile der Bevölkerung einen zugesicherten Mindeststandard mit Unterstützung des Systems der sozialen Sicherung erreichen. Dies ist jedoch nicht mit Armut gleichzusetzen. Vielmehr drücken sich hier fehlende, unabhängig von dieser Unterstützung verfügbare, Verwirklichungschancen aus.
Der Sozialhilfeanspruch kann aber gezielt zur Überbrückung von finanziell kritischen Übergangsphasen eingesetzt werden. Darüber hinaus wird die Leistung vielfach mit aktivierenden Elementen verknüpft und befähigt so zur Selbsthilfe. So erweitert sich nach meinem Dafürhalten der Blick auf eine entwicklungsorientierte Betrachtung von Existenzsicherung und auf die Berücksichtigung von aktivierenden Elementen, mit denen der Sozialstaat Teilhabe- und Verwirklichungschancen bietet.
Deutschland ist ein reiches Land. Der großen Mehrheit der hier lebenden Menschen geht es gut. Aber Armut und soziale Ausgrenzung sind nicht nur Randphänomene. Armutsrisiken können auch die Mitte der Gesellschaft bedrohen. Der Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung analysiert diese Umstände - wie ich finde - sehr zutreffend und gibt fundierte Erklärungen für die Veränderungen. Er stellt zudem unsere Politik und die ergriffenen Maßnahmen der Bundesregierung zur Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit dar. Daher empfehle ich Ihnen, einen Blick in den Bericht zu werfen, der im Internet auf der Seite des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales zum Download zur Verfügung steht.
Die Region Braunschweig gehört zu den wirtschaftlich aufstrebenden Regionen in Deutschland. Mit dem Volkswagen-Konzern und der Salzgitter AG sind zwei große und darüber hinaus eine Vielzahl mittelständischer Betriebe in der Region angesiedelt. Die Region Braunschweig hat die höchste Dichte an Forschungseinrichtungen in Europa sowie eine renomierte Universität und ist somit ein Innovationsstandort mit hervorragenden Zukunftsperspektiven.
Gleichwohl liegt die Entwicklung der Arbeitslosigkeit und das Armutsrisiko in etwa im bundesweiten Durchschnitt. Bedingt durch eine Vielzahl von Einflüssen (Strukturwandel z.B.) bedarf es auch in Braunschweig Anstrengungen, Arbeitslosigkeit und Armut zu bekämpfen. Dabei möchte ich auf ein Beispiel eingehen:
Im Westlichen Ringgebiet der Stadt Braunschweig hat sich der in den letzten drei Jahrzehnten vollzogene gesellschaftliche und wirtschaftliche Strukturwandel enorm ausgewirkt. Seit Mitte der 1990er Jahre war die Einwohnerzahl im westlichen Ringgebiet um mehr als 10% zurückgegangen. Steigende Arbeitslosigkeit und Perspektivlosigkeit gingen mit dem Einwohnerrückgang einher. Leidtragende waren in vielen Fällen die Kinder.
Um der drohenden Abwärtsspirale entgegen zu wirken, wurde das Viertel im Jahr 2001 in das Bundesprogramm „Stadtteile mit besonderem Entwicklungsbedarf / Die Soziale Stadt“ aufgenommen. Anfang 2003 kamen das Gesundheitsamt und die mit dem „Quartiersmanagement Soziale Stadt“ beauftragte plankontor GmbH darin überein, einen besonderen Akzent auf die umweltfreundliche und kindgerechte Stadterneuerung zu legen. Die Bewohner wurden dabei ermutigt, sich aktiv an der Verbesserung der Lebensqualität in ihrem Stadtteil zu beteiligen.
Anlässlich der Verleihung des Deutschen Präventionspreises 2007 in Berlin ist das aus der Initiative hervorgegangene Braunschweiger Präventionsprojekt „Gesund leben lernen im westlichen Ringgebiet“ in die engere Auswahl der Preisvergabe sogar gekommen. Es zeigt, dass sich Engagement lohnt und in Braunschweig erfolgreich statt findet. Als Braunschweiger Abgeordnete werde ich mich weiterhin für Projekte dieser Art einsetzen.
Für Rückfragen stehe ich Ihnen gerne zur Verfügung.
Mit freundlichen Grüßen,
Dr. Carola Reimann MdB