Frage an Cansel Kiziltepe von Carsten N. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Liebe Frau Kiziltepe,
viele Menschen aus allen politischen Lagern hat nach meiner Wahrnehmung irritiert, dass die Abstimmung zur "Ehe für alle" erst an einem der letzten Sitzungstage des Bundestags als "Gewissensentscheidung" behandelt wurde und auch das erst nach einer beiläufigen und möglicherweise nicht ganz durchdachten Talkshowaussage der Kanzlerin. Aus allen politischen Lagern kam auch die Kritik, dass durch diesen späten Zeitpunkt der "Gewissensfreigabe" die wirklich offene Debatte viel zu kurz ausgefallen sei und dass letztlich das Ansehen des Parlaments sowie das Vertrauen in die Souveränität der einzelnen Abgeordneten gelitten habe.
Meine Frage wäre daher: Welche Lehre würden Sie (wenn überhaupt) aus diesem Vorgang und aus dieser Kritik für die Zukunft ziehen? Und gibt es wichtige Themen, die Sie persönlich in der nächsten Legislaturperiode ohne "Fraktionszwang" debattiert sehen möchten?
Über eine Antwort, die mich wirklich brennend interessiert, würde ich mich sehr freuen!
Sehr geehrter Herr N.,
vielen Dank für Ihre Anfrage.
Über die Öffnung der Ehe wurde seit vielen Jahren diskutiert. Nicht nur in der Gesellschaft, sondern insbesondere auch in den Parlamenten in Deutschland – auf Bundes- und auf Landesebene. Den ersten Gesetzentwurf hat die SPD-Fraktion bereits in der 13. Wahlperiode 1998 vorgelegt und damit die politische Diskussion vorangetrieben. Über die Jahre hinweg folgten immer wieder Initiativen, Gespräche und parlamentarische Debatten – gerade in der aktuellen Legislaturperiode wurde mehrfach im Plenum des Deutschen Bundestages über das Thema beraten, zuletzt am 17.06.2017. Im Rechtsausschuss haben wir als SPD-Fraktion am 25.09. sogar eine Sachverständigenanhörung durchgeführt. Die Entscheidung wurde also nicht übereilt und ohne umfassende Beratung herbeigeführt.
Mit dem Koalitionspartner CDU/ CSU haben wir ebenfalls von Beginn bis zum Ende der Legislaturperiode das Gespräch gesucht. Angefangen von den Koalitionsverhandlungen, bei denen die Union nicht bereit war, sich für die Öffnung der Ehe auszusprechen, bis hin zum letzten Koalitionsausschuss am 29.03.2017, bei dem die SPD das Thema beraten wollte. Auch diesen Vorschlag lehnte die Union ab, insbesondere war die Union immer gegen eine Grundgesetzänderung.
Nachdem unser Kanzlerkandidat Martin Schulz auf dem Dortmunder Parteitag die Ehe für alle zur Bedingung eines SPD-Regierungseintritts gemacht hat, hat die Kanzlerin aus Machtkalkül – nicht aus innerer Überzeugung wie Martin Schulz – einmal mehr Ihre Meinung kurzfristig komplett geändert. Wir haben als SPD-Bundestagsfraktion daraufhin mit der Union gesprochen und angekündigt, den Gesetzentwurf auf die Tagesordnung zu setzen. Die Öffnung der „Ehe für alle“ mit dem Beschluss am 30.6.2017 war ein längst überfälliger Schritt und ein großer Schritt hin zu mehr Gerechtigkeit.
Grundsätzlich gibt es keinen Fraktionszwang, weil dieser dem Grundsatz des freien Mandats widersprechen würde. Bundestagsabgeordnete sind nach Artikel 38 des Grundgesetzes nur ihrem eigenen Gewissen verpflichtet. Als Abgeordnete des Deutschen Bundestages haben wir die Möglichkeit für unsere Positionen zu einzelnen Themen in den Arbeitsgruppen unserer Fraktion oder in der Fraktionssitzung zu werben. Wenn die Fraktion mit Mehrheit entschieden hat, ordnen sich die Abgeordneten einer freiwilligen Fraktionsdisziplin unter. Ohne eine grundsätzliche Fraktionsdisziplin wäre unsere parlamentarische Demokratie unberechenbar. Wichtige Gesetzgebungsvorhaben könnten blockiert werden, weil bei knappen Mehrheiten schon wenige Stimmen den Ausschlag für das Zustandekommen eines Gesetzes geben. Also wird in den Fraktionen vorab intensiv über eine einheitliche Linie diskutiert. Trotzdem gibt es Abstimmungen, bei denen einzelne Abgeordnete von der Fraktionslinie abweichen. Ich habe beispielsweise bei der Asylrechtsverschärfung oder bei Auslandseinsätzen gegen die Position meiner Fraktion gestimmt, weil ich die Entscheidung nicht mit meinem Gewissen und meinen persönlichen Überzeugungen vereinbaren konnte.
Handelt es sich um ausgesprochene Gewissensfragen oder ethische Grundsatzfragen des Lebens, wie beispielsweise der Verjährungsfrist für NS-Verbrechen oder der Sterbehilfe, gibt die Fraktionsführung die Abstimmung frei. Dann entscheiden die Bundestagsabgeordneten bei sogenannten Abstimmungen ohne Fraktionszwang unabhängig von ihrer jeweiligen Fraktion.
Ich kann aktuell noch nicht voraussehen, welche Themen in der kommenden Legislaturperiode möglicherweise ohne Fraktionszwang abgestimmt werden könnten. Diese Ausnahme sollte jedoch im jeweiligen Einzelfall, wie in der Vergangenheit, sorgsam geprüft werden.
Mit freundlichen Grüßen
Cansel Kiziltepe