Frage an Brigitte Pothmer von Heinz O. bezüglich Soziale Sicherung
Sehr geehrte Frau Pothmer,
vielen Dank für Ihre Antwort. Sie schreiben "Ihre Einschätzung, jegliche Sanktionen seien verfassungswidrig, teile ich allerdings nicht. Deshalb wollen wir Grünen Sanktionen auch nicht grundsätzlich abschaffen. "
Wie sehen Sie Ihre verfassungsmäßige Einschätzung denn in Relation zu dem Urteil
des Bundesverfassungsgericht, welches auch besagt:
Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG verlangt, dass das Existenzminimum in jedem Fall und zu jeder Zeit sichergestellt sein muss." (BVerfG, 1 BvL 10/10 vom 18.07.2012 (AsylbLG), Abs- Nr. 120).?
In JEDEM FALL und ZU JEDER ZEIT schließen Sanktionen ja wohl, oder
wie sollten sie "begründet" sein, ohne mit dem Gleichheitsgrundsatz
in Konflikt zu kommen?
Sehr geehrter Herr Onasch,
haben Sie vielen Dank für Ihre erneute Nachricht. Ebenso wie von Ihnen wird auch von anderen Sanktionsgegnern immer wieder Bezug genommen auf die von Ihnen zitierte Entscheidung des BVerfG und vor allem auch auf das Urteil vom 9. Februar 2010 (1 BvL 1/09, 1 BvL 3/09, 1 BvL 4/09), wo das BVerfG bereits in den Leitsätzen von einem “Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums” spricht. Von Sanktionsgegnern wird argumentiert, damit sei jede Form der Sanktionierung untersagt. Dies wird allerdings von maßgeblicher juristischer Seite zurückgewiesen, die eine so weitreichende Ableitung aus dem damaligen Urteil nicht erkennen kann. So argumentiert der Deutsche Richterbund in seiner Stellungnahme zur öffentlichen Anhörung des Ausschusses für Arbeit und Soziales vom 6.6.2011 (Ausschussdrucksache 17(11)539) wie folgt:
„Das Bundessozialgericht (BSG) sieht die Regelungen über die Sanktionen in § 31 SGB II (in seiner zur früheren Fassung des Gesetzes ergangenen Rechtsprechung) nicht als unvereinbar mit dem Grundgesetz an. Es geht vielmehr von der Wirksamkeit der gesetzlichen Vorschriften aus, stellt aber strenge Anforderungen etwa an den Inhalt der dem Hilfebedürftigen zu erteilenden Rechtsfolgenbelehrung (vgl. BSG, Urteil vom 15.12.2010 - B 14 AS 92/09 -, a. a. O.).
Auch das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat die geltenden Sanktionsregelungen (einschließlich der schärferen Sanktionen für unter 25-jährige) in seinem Urteil vom 09.02.2010 (BGBl. I S. 193) nicht als unvereinbar mit dem in diesem Urteil aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG abgeleiteten Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums angesehen. Zwar hat sich das BVerfG in seinem Urteil vom 09.02.2010 zu den Sanktionen nach § 31 SGB II (a. F.) nicht ausdrücklich geäußert; es hat aber festgestellt, dass die (damalige) Höhe der Regelsätze nicht evident unzureichend ist und den Gesetzgeber - anders etwa als in Bezug auf einen unabweisbaren, laufenden, nicht nur einmaligen besonderen Bedarf (Härtefallregelung) - nicht zu einer abweichenden Regelung verpflichtet. Das BVerfG hat dadurch die weitere Absenkung der Leistungen durch Sanktionen zugelassen (so auch Davilla, SGb 2010, 557 m. w. N.).
Es betont in diesem Zusammenhang den weiten Gestaltungsspielraum des sozialpolitischen Gesetzgebers (BVerfG, Urteil vom 09.02.2010, a. a. O.; Beschluss vom 11.07.2006, NJW 2007, 51, 55) und verweist auf den Grundsatz der Selbsthilfe und der Subsidiarität steuerfinanzierter Leistungen (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 07.07.2010 - 1 BvR 2556/09 -, juris, Rn. 13).
Allerdings weist das BVerfG in seinem Urteil vom 09.02.2010 auch auf den aus dem Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminiums abgeleiteten Grundsatz hin, dass der gesetzliche Leistungsanspruch so ausgestaltet sein muss, dass er stets den gesamten existenznotwendigen Bedarf jedes individuellen Grundrechtsträgers deckt (juris Rn. 137). Das heißt, dass Sanktionen nicht dazu führen dürfen, dass Hilfebedürftige etwa hungern müssen oder obdachlos werden (Winkler, in: Gagel, SGB II, § 31 Rn. 162 ff. u. a. unter Hinweis auf die Aussage des früheren Bundesministers für Arbeit und Soziales im Plenarprotokoll 842 des Bundesrats vom 07.07.2006, S. 226). Ob die Sicherung des Existenzminimums durch Geld-, Sach- oder Dienstleistungen erfolgt, überlässt das BVerfG hierbei grundsätzlich dem Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers (juris Rn. 138). Das absolute Existenzminimum siedelt der Gesetzgeber bei 70 % der geltenden Regelleistung (zuzüglich Kosten der Unterkunft und Heizung) an. Auch insoweit erfolgte durch das BVerfG durch das Urteil vom 09.02.2010 keine Beanstandung. Für den Fall einer Minderung der Regelleistung um mehr als 30 % hat der Gesetzgeber die Erbringung ergänzender Sachleistungen oder geldwerter Leistungen in das Ermessen des Leistungsträgers gestellt. Bei dieser Ermessensentscheidung ist das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums zu berücksichtigen. Dies führt dazu, dass das Ermessen des Leistungsträgers auf Null reduziert ist, wenn der Hilfeempfänger keine andere Möglichkeit zum Bestreiten seines Existenzminimums – insbesondere keine Reserven - mehr hat (Winkler, a. a. O., Rn. 163). Die vollständige Streichung vom Hilfeempfänger zur Bestreitung seines Existenzminimums benötigter Grundsicherungsleistungen ist vom geltenden Recht daher nicht vorgesehen.“
Vor dem Hintergrund dieser verfassungsrechtlichen Einordnung sehe ich die grünen Forderungen nach einem Sanktionsmoratorium und einer Reform der Sanktionsregeln nach wie vor als beste Lösung an. Wir Grüne wollen, dass die Sanktionsregeln so ausgestaltet werden, dass der Grundbedarf sowie die Kosten der Unterkunft und Heizung von Sanktionen ausgenommen werden; deshalb dürfen höchstens 10 Prozent des Regelsatzes gekürzt werden; bei Kürzungen über 10 Prozent des Regelsatzes sind antragslos entsprechende Sachleistungen zu erbringen. Das geltende verschärfte Sanktionsinstrumentarium für Menschen unter 25 Jahren wollen wir abschaffen und den Regelsatz auf 420 Euro erhöhen.
Unseren aktuellen Antrag „Existenzminimum und Teilhabe sicherstellen – Sanktionsmoratorium jetzt“ können Sie hier http://dipbt.bundestag.de/doc/btd/18/019/1801963.pdf nachlesen.
Mit freundlichen Grüßen
Brigitte Pothmer