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Birgit Sippel
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Frage von Tim G. •

Frage an Birgit Sippel von Tim G. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen

Sehr geehrte Frau Sippel,

Sie haben in der gestrigen (14. Mai 2020) Plenardebatte über die Corona-Maßnahmen der ungarischen Regierung wie andere Abgeordnete auch die Ablehnung der Ratifizierung des Istanbul-Abkommens sowie das Gesetz über Transgender in Ungarn erwähnt. Auch ich halte diese Entscheidungen in Ungarn für bedauerlich -- das sei vorbemerkt. Aber eine Frage: Was hat das denn nun wieder mit den Notstandsmaßnahmen der Regierung zu tun? Diese Entscheidungen wurden doch ganz regulär vom ungarischen Parlament getroffen und nicht von der regierung auf Grundlage der Notstandsermächtigungen, oder sehe ich das falsch?
Ist es eigentlich Sache des EP, die Entscheidungen nationaler Parlamente zu kritisieren? Ist das nicht eine Debatte, die in die jeweiligen Länder gehört? Hat sich das EU-Parlament in die Debatten hier in Deutschland über Homo-Ehe, Adoptionsrecht und dergleichen ebenfalls eingemischt? Wie konnte Deutschland in der EU sein, obwohl bis Anfang des Jahrtausends noch ein BGB galt mit Züchtigungsrecht der Eltern, Recht des Ehemannes zur Kündigung des Arbeitsverhältnisses und dergleichen überkommenes Gedöns? Sind wir in diesen Fragen wirklich so viel weiter als andere?
Dürfen wir nicht ein wenig darauf vertrauen, dass sich Gleichstellung, Minderheitenrechte und dergleichen auch in den Ländern Osteuropas mit der Zeit und aus der Mitte ihrer Gesellschaft entwickeln werden, ohne dass wir ihnen ständig aus dem Westen den Zeigefinger vorhalten?
Mit freundlichen Grüßen

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Antwort von
SPD

Sehr geehrter Herr Gerber,

herzlichen Dank für Ihre Frage vom 15. Mai 2020, die ich über die Seite abgeordnetenwatch.de erhalten habe.

Im Grunde kann ich mich Ihrer ersten Frage nur anschließen: „Was hat das [sprich die Istanbul-Konvention] denn nun wieder mit den Notstandsmaßnahmen der Regierung zu tun?“. Denn in der Tat hat die Zustimmung oder Ablehnung des Übereinkommens des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt, besser bekannt als Istanbul Konvention, absolut nichts mit der Bekämpfung des covid-19 Virus zu tun, weder in Ungarn noch anderswo. Und so wurde, wie Sie auch schreiben, die Ratifizierung der Konvention nicht über ein Notstandsdekret, sondern vom ungarischen Parlament selbst abgelehnt.

Aber eben diese Tatsache, dass die Entscheidung nichts mit der Bekämpfung des Virus zu tun hat, kritisiere ich in meiner Rede. Ungarn ist der einzige EU-Mitgliedstaat, der den Ausnahmezustand ohne zeitliche Begrenzung beschlossen hatte. Und just in dieser Situation, die es möglichen Kritiker*innen aufgrund der Beschränkungen beinahe unmöglich macht, auf die Straße zu gehen, um ihre Kritik zum Ausdruck zu bringen, trifft die Regierung Orbán eine derart grundlegende gesellschaftspolitische Entscheidung. Erst vor wenigen Tagen hat sich dies wiederholt: Mit den Stimmen der nationalkonservativen Koalition hat das ungarische Parlament ein Gesetz beschlossen, das die Änderung des biologischen Geschlechtes im standesamtlichen Personenregister verhindert, sodass das nach der Geburt dort eingetragene Geschlecht später nicht mehr geändert werden kann.

Dies ist symptomatisch für die Regierung Orbán: Seit seinem Amtsantritt 2010 verfolgt Orbán einen zunehmend rechtskonservativen Kurs. Mit dem Ziel des absoluten Machtausbaus höhlt er strategisch den Rechtsstaat aus, schränkt Grundrechte, wie das Recht auf Presse- und Versammlungsfreiheit zunehmend ein und schwächt damit systematisch die Opposition, kritische Stimmen aus der Zivilgesellschaft und Minderheiten. In den vergangenen zwei Monaten hat das Vorgehen von Viktor Orbán – erleichtert durch den unbefristeten Ausnahmezustand – jedoch ein neues Level erreicht.

Und damit komme ich zum zweiten Teil Ihrer Frage – „Ist es eigentlich Sache des EP, die Entscheidungen nationaler Parlamente zu kritisieren?“ Ja, ist es, wenn unsere gemeinsamen Grundwerte verletzt werden. Genau das geschieht seit Jahren in Ungarn. Im Vertrag über die Europäische Union (EUV), Artikel 2, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören, festgeschrieben. Der Vertrag über die Europäische Union und die Charta der Grundrechte sind für alle Mitgliedstaaten bindend und es ist die Pflicht des Europäischen Parlaments, auf Verletzungen dieser Grundwerte hinzuweisen.

Durch Artikel 2 EUV wird unter anderem auch der Grundsatz der Gleichheit zwischen Frauen und Männern sowie die Nicht-Diskriminierung bestätigt. Die Charta der Grundrechte garantiert das Recht auf Würde (Titel I) und auf Gleichheit (Titel III). Sie enthält unter anderem spezielle Vorschriften zum Recht auf körperliche und geistige Unversehrtheit und untersagt jegliche Diskriminierung aufgrund des Geschlechts. Gewalt gegen Frauen stellt eine Verletzung der Menschenrechte und eine Form der Diskriminierung aufgrund des Geschlechts dar. Sie geht auf die Ungleichheit zwischen Frauen und Männern innerhalb der Gesellschaft zurück, nimmt vielerlei Formen an und wird mitunter mit traditionellen und religiösen Werten begründet. Diese Gewalt hat erhebliche Auswirkungen auf die Opfer und ist mit hohen gesellschaftlichen Kosten verbunden. Schätzungen zum Ausmaß von Gewalt gegen Frauen sind alarmierend – und sind laut unterschiedlicher Studien in Zeiten von covid-19 erneut angestiegen.

Und obwohl es Gemeinsamkeiten zwischen den nationalen Strategien zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen gibt, haben die EU-Mitgliedstaaten unterschiedliche Herangehensweisen an das Problem gewählt. Aber anstatt sich mit der Zeit zunehmend einander anzupassen, zeigen die Entwicklungen in einigen EU-Mitgliedstaaten in den vergangenen Jahren, dass sich die nationalen Herangehensweisen wieder weiter voneinander entfernen. So haben zwar alle EU-Mitgliedstaaten die Istanbul Konvention zunächst noch unterzeichnet (Ungarn beispielsweise im Jahr 2014), jedoch lehnen einige EU-Mitgliedstaaten, insbesondere in Zentral- und Osteuropa, die Ratifizierung der Konvention ab. Dies ist umso besorgniserregender, wenn zugleich auch in anderen Bereichen, beispielsweise dem Umgang mit Flüchtlingen, mit Minderheiten wie LGBTI-Personen und vor allem dem Justizsystem als solchem, zunehmend bedenkliche Entscheidungen getroffen werden.

Im Rahmen des Strategischen Engagements der EU für die Gleichstellung der Geschlechter ist daher der Beitritt der Gesamt-EU – und nicht nur der einzelnen Mitgliedstaaten – zur Istanbul-Konvention des Europarats eine der Prioritäten. Es geht hier nicht darum, mit dem Zeigefinger auf einzelne Länder zu zeigen, sondern darum, dass Frauen in der EU überall gleichermaßen vor Gewalt geschützt sein müssen. Dass auch in Deutschland viel zu lange noch rückständige Gesetze eine echte Gleichberechtigung der Geschlechter verhindert haben, steht dabei absolut außer Frage. Und die Tatsache, dass Deutschland heute im Bereich der Gehaltsunterschiede zwischen Frauen und Männern EU-weit eines der Schlusslichter ist und damit eine echte Gleichstellung der Geschlechter verhindert, gilt es als EU-Parlament kritisieren – eben um das Recht auf Gleichheit und den Schutz vor Nicht-Diskriminierung zu gewährleisten.

Um noch einmal zurückzukommen auf die Istanbul Konvention: Der Beitritt der EU zur Istanbul Konvention ist natürlich abhängig vom Einverständnis der Mitgliedstaaten – und da kommen wir zum Kern des Problems: Beschließt Ungarn, die Istanbul Konvention nicht zu ratifizieren, stoppt dies automatisch die Bestrebungen der EU der Istanbul Konvention beizutreten. Und damit kann die EU nicht dem derzeit umfassendsten Instrument zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen beitreten, um den Frauen in der EU die bestmögliche Prävention, den bestmöglichen Schutz und die bestmögliche Bekämpfung von Gewalt in all seinen Mitgliedstaaten zu garantieren. Die Entscheidung Ungarns hat also nicht „nur“ Auswirkungen auf die Situation der Frauen dort, sondern am Ende des Tages auf alle Frauen in der EU. Deswegen ist es wichtig, weiter für die Istanbul-Konvention zu werben, vor Rückschritten zu warnen und deutlich zu machen, dass die Entscheidung einer Regierung Auswirkungen auf uns alle haben kann.

Ich hoffe sehr, dass ich Ihnen mit diesen Erläuterungen Ihre vielschichtige Frage beantworten konnte und Sie somit die Beweggründe für meine Rede im Brüsseler Plenum am 14. Mai 2020 nachvollziehen und womöglich sogar unterstützen können.

Mit freundlichen Grüßen

Birgit Sippel

 

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