Frage an Birgit Schnieber-Jastram von Andreas S. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Sehr geehrte Frau Schnieber-Jastram!
Auf Ihren Antrag hin hat die CDU Hamburg beschlossen, für eine 3%-Sperrklausel bei Europawahlen in Deutschland einzutreten, nachdem das Bundesverfassungsgericht eine Sperrklausel bei Europawahlen für unzulässig erklärt hat.
Sie schreiben in der Begründung des Antrags, dass eine neue Begründung einer Sperrklausel diese rechtfertigen könnte. Darauf folgt dann aber eine Begründung, die das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich verworfen hat, nämlich die "Vermeidung einer weiteren Zersplitterung der deutschen Interessenvertretung im Europäischen Parlament":
"Unabhängig von der Frage, ob die Wahrung nationaler Interessen im Rahmen von Europawahlen überhaupt einen legitimen Ansatz für Differenzierungen darstellen kann, liegt es auf der Hand, dass damit kein tragfähiger Grund für eine wahlrechtliche Ungleichbehandlung benannt ist. Der Gesetzgeber darf größere Parteien nicht allein deshalb bevorzugen, weil sie ihre Auffassungen auf europäischer Ebene voraussichtlich mit größerer Aussicht auf Erfolg als kleine Parteien einbringen können."
http://www.bverfg.de/entscheidungen/cs20111109_2bvc000410.html#abs128
Meine Frage ist deshalb, wie Sie die gegebene Begründung mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts für vereinbar halten oder wie eine 3%-Sperrklausel sonst verfassungsgemäß begründet werden sollte? Da eine neue Sperrklausel mit Sicherheit wieder vor dem Bundesverfassungsgericht landen würde, muss es doch Überlegungen geben, wie sie da Bestand haben soll.
Eine Möglichkeit für eine verträglichere Sperrklausel wäre die Kombination mit Alternativstimmen, dass also der Wähler die Listen nach seinen Präferenzen durchnummerieren kann und die Stimme für die erste davon zählt, die die Sperrklausel überwindet. Damit bleibt zwar die Gleichbehandlung der Parteien beeinträchtigt, aber die Erfolgswertgleichheit der Wähler gewahrt. So eine Lösung hätte wahrscheinlich gute Chancen vor dem Bundesverfassungsgericht. Wie halten Sie davon?
Sehr geehrter Herr Schneider,
der Landesparteitag der CDU-Hamburg hat die von Ihnen angesprochenen Anträge angenommen. Die CDU/CSU-Gruppe im Europäischen Parlament hat die Initiative für eine neue 3%-Hürde bei der nächsten Europawahl im Jahr 2014 gestartet. Wir werden uns auf dem CDU-Bundesparteitag Anfang Dezember in Hannover dafür aussprechen, dass der Bundesgesetzgeber die neue Sperrklausel im deutschen Europawahlrecht verankert.
Das Bundesverfassungsgericht hat im November 2011 die bis dahin für deutsche Europawahlen geltende 5%-Klausel für verfassungswidrig und nichtig erklärt. Ohne eine andere Lösung droht eine Zersplitterung der deutschen Kräfte im Europäischen Parlament (EP). Das Bundesverfassungsgericht selbst erwartet eine Zunahme von Parteien mit ein oder zwei Abgeordneten "in nicht zu vernachlässigender Größenordnung".
Dies bedeutet eine erhebliche Schwächung der deutschen Position in den europäischen Gesetzgebungsverfahren. Die großen deutschen Parteien erlitten einen beträchtlichen Verlust an Gestaltungskraft in ihren EP-Fraktionen und in den Parlamentsgremien. Das gilt es abzuwenden.
Das Bundesverfassungsgericht hat bereits in seinem Lissabon-Urteil vom Juni 2009 hervorgehoben, dass das EP "eine Vertretung der Völker der Mitgliedstaaten" sei, in der deren Demokratien "mit ihren Mehrheitsverhältnissen und Richtungsentscheidungen" repräsentiert würden. Auch aus deutscher Sicht kann dieser verfassungsrechtliche Repräsentationsauftrag nur dann einen Sinn haben, wenn die Interessen des deutschen Volkes durch die eigenen Europaabgeordneten möglichst wirksam vertreten werden können und wenn das Ergebnis der Europawahl in Deutschland in den parlamentarischen Entscheidungsprozessen des EP auch tatsächlich zum Ausdruck kommen kann.
Politisch bin ich daher der Meinung, dass die Teilnahme an der Repräsentation des deutschen Volkes bei künftig nur noch 96 deutschen Sitzen in einem Europäischen Parlament von immerhin 751 Mitgliedern nicht auf sehr kleine Klientelparteien ausgedehnt werden sollte. Die großen Volksparteien sind viel besser in der Lage, die unterschiedlichen Strömungen in einer komplexen Gesellschaft in einem demokratischen Prozess zu bündeln, miteinander zu vereinbaren und dann kraftvoll im EP zu vertreten.
Eine Öffnung des Europawahlrechts ohne weitere Einschränkung birgt nicht zuletzt die Gefahr des Einzugs extremistischer Kräfte. Die Aufmerksamkeit, die ihnen zuteil würde, wäre nicht nur schlichtweg falsch, sondern gemessen an der tatsächlichen Bedeutung dieser Kräfte in Deutschland auch völlig unverhältnismäßig. Sie wäre überdies schädlich für das deutsche Ansehen. Ich persönlich möchte es nicht erleben, dass wegen des ersatzlosen Wegfalls einer Wahlrechtssperrklausel ausgerechnet aus Deutschland europafeindliche und verfassungsrechtlich bedenkliche Kräfte in das Europäische Parlament einziehen.
Kommen Vertreter sehr kleiner deutscher Parteien in das Europäische Parlament, ist das möglicherweise nicht allein ein Nachteil für die Durchsetzung der deutschen Positionen oder für den deutschen Ruf. Gehen Abgeordnete sehr kleiner Parteien und Fraktionen trotz geringer Schnittmenge ein Bündnis ein, kann das den Parlamentsbetrieb sehr erschweren. Es bestünde sogar die Gefahr von Funktionsstörungen des europäischen Regierungssystems. Schließlich bedarf es eines Mindestmaßes an Fraktionskohärenz, da es sonst keine Mehrheit mehr gibt, die die Kommission trägt.
Neben umfassenden Gesetzgebungskompetenzen und einem ausgeprägten Kontrollauftrag gegenüber der Europäischen Kommission hängt diese nämlich in vielfacher Weise konstitutiv vom EP ab. Eine besondere politische Bindung des Kommissionspräsidenten an die stärkste EP-Fraktion ergibt sich regelmäßig daraus, dass der Europäische Rat bei der Auswahl des Kandidaten für das Amt des Kommissionspräsidenten das Ergebnis der Europawahlen berücksichtigen und der Kandidat durch das EP bestätigt werden muss.
Auch wenn das Bundesverfassungsgericht eine Regierung, die wie die deutsche Bundesregierung von einer stabilen parlamentarischen Mehrheit gewählt und getragen wird, als wesentliche Voraussetzung einer 5%-Klausel betrachtet, spricht das noch nicht generell gegen eine Sperrklausel für die deutschen Europawahlen. Das Grundgesetz verlangt eine europäische Integration. Folglich ist es - so auch das Bundesverfassungsgericht in seinem Lissabon-Urteil - dem deutschen Gesetzgeber erlaubt, zur Fortentwicklung der europäischen Integration eine andere Gestaltung politischer Willensbildung zu gestatten als sie das Grundgesetz für die deutsche Verfassungsordnung bestimmt.
Gerade jetzt zeichnet es sich ab, dass die europäischen Parteien eigene Kandidaten für das Amt des Kommissionspräsidenten präsentieren. Ein Prozess hat eingesetzt, die europäischen Parteien mit Rechtspersönlichkeit auszustatten. Der heutige politische Wettbewerb der europäischen Parteienfamilien wird in einen politischen Wettbewerb integrierter europäischer Parteien übergehen. Es prägt sich ein über das bereits Erreichte hinausgehender, umfassender parlamentstypischer Regierungs-Oppositions-Dualismus aus.
Eine Sperrklausel abzulehnen, weil dieser Dualismus zurzeit noch weniger stark ausgeprägt ist, hieße die weitere Entwicklung zu behindern. Dies wäre aus meiner Sicht mit dem Integrationsauftrag des Grundgesetzes zur Verwirklichung des vereinten Europa schwerlich zu vereinbaren.
Es ist zu akzeptieren, dass das Bundesverfassungsgericht die deutsche 5%-Klausel für die Europawahl für nichtig erklärt hat. Aus den dargelegten Gründen spreche ich mich aber für die Einführung einer neuen Sperrklausel im Lichte der Fortschritte der Integration Europas aus. Da die Sperrklausel die Integrationsentwicklung zwar fördern können muss, das Ergebnis dieser Entwicklung aber heute nicht schon durch sie vorweg genommen werden kann, wäre eine zurückhaltendere Beschränkung der Wahlrechts- und Chancengleichheit angebracht. In der Abwägung erscheint die Einführung einer 3%-Klausel als die angemessene, rechtlich gebotene und richtige Lösung.
Mit freundlichen Grüßen
Birgit Schnieber-Jastram