Frage an Birgit Schnieber-Jastram von Constantin C. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Sehr geehrte Frau Schnieber-Jastram,
mit Entsetzen müssen wir zur Zeit zusehen, wie die ungarische Regierung die eigene Verfassung umbaut und dabei den Rechtsstaat abschafft.
Erstaunlicherweise hat die EU bis auf ein paar leicht mahnende Worte keine Position bezogen und noch keine Sanktionen auf den Tisch gelegt.
Denken Sie, dass bei einem solch gravierenden Verstoss gegen die Mitgliedschaftsprinzipien der EU Schritte wie Stimmenentzug, wirtschaftliche Sanktionen und/oder gar Ausschluss gerechtfertigt und notwendig sind, vor allem da Ungarn doch gerade die Ratspräsidentschaft übernommen hat?
Mit freundlichen Grüßen,
Constantin Calavrezos
Sehr geehrte Frau Balzer, sehr geehrter Herr Calavrezos,
in der EU-Charta der Grundrechte ist es von großer Bedeutung, "die Freiheit der Medien und ihre Pluralität" zu achten (Artikel 11). Dies schließt "die Freiheit ein, Informationen und Ideen ohne behördliche Eingriffe und ohne Rücksicht auf Staatsgrenzen zu empfangen und weiterzugeben". Nur ist dieser Artikel nicht unmittelbar anwendbar, weil die Charta nur bei EU-Gesetzgebung und deren Umsetzung zur Verfügung steht. Die Organisation des Medienrechts aber liegt in nationaler Kompetenz, in Deutschland sogar in Länderkompetenz, die zäh verteidigt wird.
Wegen der Bedeutung der Pressefreiheit wäre aber der Klageweg über den Straßburger Menschenrechtsgerichtshof des Europarats möglich. Auch die EU könnte, wenn die Vorwürfe zuträfen, aktiv werden und die EU-Charta der Grundrechte und die Europäische Menschenrechtskonvention als Bewertungsmaßstäbe heranziehen (Artikel 6 EUV, Vertrag von Lissabon).
Wenn man zu dem Schluss kommen sollte, dass Ungarn die Werte der Union wie Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit unter Missachtung von "Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz" (Artikel 2 EUV) verletzt hat, kann die EU tätig werden. Ein Drittel der Mitgliedstaaten, das Europäische Parlament oder die Kommission könnten harsche Maßnahmen bis zum Verlust des Stimmrechts einleiten. Die Hürden sind hoch und bedürfen einer tiefgehenden Begründung. Deshalb ist es wichtig, dass die Kommission sich an Ungarns Regierung mit der Bitte um Erläuterung wendet.
Dass etwa der hohe Pflichtanteil an ungarischen Produktionen gegen EU-Recht verstößt, scheint klar zu sein. Das ist aber kein Problem der Pressefreiheit.
Die innere Organisation, also die Schaffung einer Einrichtung, die alle öffentlichen Medien in Ungarn einbezieht, ist sicherlich unproblematisch, obwohl etwa 50 Personen dabei ihr Staatssekretärsgehalt verlieren. Eine Medienbehörde mit dem Recht der Registrierung und der Einbeziehung von Sendelizenzen gibt es in vielen Staaten (Landesmedienanstalten). Das Problem scheint zu sein, dass die Regierung Orbán mit ihrer Zweidrittelmehrheit ein über 120 Seiten langes Gesetz durchgesetzt hat, in dem nahezu alle Kommunikation geregelt wird, öffentliche wie private Medien, Internet, EU-Richtlinien, Jugendschutz. Dabei darf indes nicht übersehen werden, dass Orbáns Partei in der vorherigen Medienbehörde nicht vertreten war.
Die Offenlegung der Quellen "in Fragen der öffentlichen Sicherheit" ist in den meisten Staaten ein Problem. Auch in Deutschland gibt es immer wieder Druck zulasten der journalistischen Freiheit mit diesem Argument. Trotz Wikileaks muss klar sein, dass ein Journalist, der mit legalen Mitteln an eine Information kommt, sie unabhängig von ihrer Herkunft benutzen darf, aber auch nicht muss. Persönlichkeitsschutz und Folgenabschätzung gehören zur journalistischen Verantwortung.
In neuen EU-Staaten gibt es bedauerlicherweise immer noch Tendenzen, das Recht nicht als Eigenwert zu sehen, sondern als ein Instrument der Politik. Das Vorgehen der slowenischen Regierung gegen den Oppositionsführer und der alten slowakischen Regierung gegen Minderheiten mögen Hinweise darauf sein.
Mit freundlichen Grüßen,
Birgit Schnieber-Jastram (MdEP)