Frage an Bernd Reinert von Claudia H. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Sehr geehrter Herr Reinert,
in Ihrer Antwort vom 28. 9. 2006 an Herrn Bodeit treffen Sie einige Aussagen, die ich kommentieren möchte:
1. Sie schreiben: "Das Grundgesetz sieht einen Volksentscheid nur in zwei Fällen vor: bei Länderneugliederung (Art. 29 GG) und bei der Ersetzung des Grundgesetzes durch eine neue/andere Verfassung."
Richtig ist: "Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie findet in Wahlen und Abstimmungen statt." Derzeit existiert nur keine Entsprechung zum Wahlgesetz: ein Durchführungsgesetz für Volksabstimmungen auf Bundesebene.
2. Sie werten Volksentscheide gegenüber Bürgerschaftsentscheiden ab mit der Begründung, dass "z.T. hochkomplexe Sachverhalte auf einen schlichte Ja/Nein-Frage reduziert werden". Nicht anders verhält es sich bei Abstimmungen in der Bürgerschaft. Nicht nur im Parlament wird Vorarbeit (in den Ausschüssen) vor der Verabschiedung von Gesetzen geleistet. Auch die Volksgesetze entstehen über einen längeren Prozess unter der Beteiligung vieler gesellschaftlich engagierter Menschen und juristisch gebildeter Personen. Was berechtigt Ihrer Meinung nach, Bürgerschaftsabgeordnete, sich über eine Entscheidung der Mehrheit der Wahlberechtigten für ein von i. d. Regel außerparlamentarischen Kräften entwickeltes Gesetz zu stellen? Im Gegensatz zu den Begründern von Volksgesetzen werden Bürgerschaftsabgeordnete gewählt. Reicht das als Berechtigung? Das alte Wahlrecht schränkte die Auswahl der Repräsentanten stark ein. Zum Großteil bestimmten die Parteien, wer in der Bürgerschaft sitzt. Den Wählerinnen und Wählern blieb es überlassen, die Prozente zu verteilen. Und eine Mehrheit von indirekt über eine Parteienliste gewählten Prozent-Abgeordneten sollen sich über eine direkte Sachentscheidung der Mehrheit der Wahlberechtigten hinwegsetzen dürfen? Warum? Ich weiß, dass das Verfassungsgericht so entschieden hat. Aber ich kann es nicht nachvollziehen.
Einige weitere Aussagen halte ich für bedenklich:
1. Sie schreiben: "die Amtszeit der im Februar 2004 auf (maximal) vier Jahre gewählten Bezirksversammlungen wird um ca. 1 1/4 Jahr verlängert - damit wird ein in meinen Augen fundamentales Prinzip der repräsentativen Demokratie verletzt, nämlich dass die Wähler wissen, für wie lange sie die Abgeordneten bevollmächtigen, Beschlüsse zu fassen."
Die Mehrheit der Wählerinnen und Wähler haben sich beim Volksentscheid dafür entschieden, die Bezirkswahlen mit der Europawahl stattfinden zu lassen. Die Abstimmenden wussten also sehr wohl, dass es bei erfolgreichem Volksentscheid zu einer Verschiebung der nächsten Wahl kommt. Und die Mehrheit hat es befürwortet.
2. Sie schreiben: "Ggf. entscheiden kleinste Wählerzahlen darüber, wer als gewählter Abgeordneter in die Bürgerschaft einzieht - für die Liste einer Partei abgegebene Stimmen zählen nicht als Zustimmung zur Listenreihenfolge." Entscheiden nicht nach CDU-Modell ebenfalls kleinste Stimmenzahlen darüber, wer in die Bürgerschaft kommt? - Bei der Aufstellung der Kandidatenliste innerhalb der Parteien, von der Nicht-Parteimitglieder ausgeschlossen bleiben und die dann von den Wählerinnen und Wählern nur noch "bezustimmt" werden darf. Dank der sogenannten "Relevanzschwelle" wird der Einzug von einem unteren Listenplatz nahezu unmöglich gemacht.
Sie schreiben: "(...) es (kann) passieren, dass es für bestimmte Politikbereiche zu viele interessierte Abgeordnete gibt, für andere zu wenige. Es muss aber Politik für alle gemacht werden."
Wer zur Bürgerschaftswahl antritt, sollte in der Lage sein, sich in Bereiche einzuarbeiten, die nicht seinen/ihren Neigungen entsprechen. Sind etwa alle die Lehrer, Beamten, Anwälte und Immobilienkaufleute, die jetzt in der Bürgerschaft sitzen, begeisterte Experten auf ihrem jetzigen Arbeitsgebiet? Sollten etwa die Parteien besser beurteilen können als die Wählerinnen und Wähler, wer für ein Bürgerschaftsmandat geeignet ist? Wenn ja, warum? Politik für alle machen bedeutet meiner Meinung nach auch die Stimmen aller Parteien und gesellschaftlichen Institutionen zu hören, von denen sich eine bedeutende Zahl gegen das CDU-Wahlrecht aussprechen und zur Politik für alle gehört es auch Entscheidungen aller Wählerinnen und Wähler (Volksentscheide) zu respektieren.
Ich freue mich, wenn Sie mir Ihren Standpunkt noch einmal erläutern.
Eine weitere Frage: Werten Sie wie Ihr Fraktionskollege Henning Finck die Verringerung des Ausländeranteils auf der Veddel als Anzeichen für eine positive Entwicklung des Stadtteils?
Mit besten Grüßen,
Claudia Herbst
Sehr geehrte Frau Herbst,
ich möchte auch Ihre Anmerkungen gern kommentieren:
zu 1.: Ihre Ausführungen sind so richtig wie meine.
Zu 2.: Wenn ein Gesetz im Parlament beraten wird, gibt es oft von einer Fraktion Änderungsanträge, die einzeln und ggf. differenziert nach Einzelpunkten abgestimmt werden. Das heißt, dass die Bürgerschaftsabgeordneten inhaltlich das gestalten, was am Ende zur Ja/Nein-Abstimmung steht, während die Abstimmenden bei einem Volksentscheid keine Möglichkeit haben, Änderungsanträge zu stellen und daher nur vor die Ja/Nein-Frage gestellt werden.
Das Recht der Bürgerschaft, Volksentscheide zu ändern, ergibt sich aus der Verfassung, wie ich in meinen Antworten an Herrn Bodeit und Herrn Saß dargelegt habe. Es war übrigens nicht eine Mehrheit der Wahlberechtigten, die dem Volksentscheid zugestimmt hat, sondern es waren 21,2% der Wahlberechtigten. Ihre "Warum"-Frage ist eigentlich auch bereits beantwortet: Hamburg wie Deutschland insgesamt und alle anderen Bundesländer ist nach dem Prinzip der repräsentativen Demokratie aufgebaut. Ich befürworte dieses System, das sich seit 1949 bewährt hat, und will einige Aspekte verdeutlichen: Eine der Stärken dieser Form der Demokratie liegt in meinen Augen im Minderheitenschutz, der bei einer direkten Demokratie latent stärker gefährdet ist, und in dem unveränderlichen Kern laut Artikel 79 Abs. 3 GG: Menschenwürde, Demokratie-, Rechtsstaats- und Sozialstaatsprinzip und Gewaltenteilung dürfen nicht angetastet werden, selbst dann nicht, wenn alle Bundestagsabgeordneten und alle Mitglieder des Bundesrates dafür stimmten. In einer direkten Demokratie müsste konsequenterweise auch all dies zur Disposition eines Volksentscheids stehen - es fehlen also die Sicherungen.
Zu Ihren weiteren Punkten:
1. Zur Mehrheitsfrage siehe oben - selbst wenn es eine Mehrheit gewesen wäre, die die Wahlperiode der Bezirksversammlungen verlängern wollte, so hätte sie aus Gründen des Minderheitenschutzes nicht das Recht dazu, denn die Minderheit muss nach vier Jahren die Chance haben, zur Mehrheit zu werden, denn das war quasi die Bedingung für die Anerkennung des Wahlergebnisses durch die Minderheit.
2. Wir leben in einem Staat, in dem die Parteien an der politischen Willensbildung des Volkes mitwirken (Art. 21 Abs. 1 GG), und man kann es sicher unterschiedlich sehen, wie weit der Einfluss von Parteien gehen sollte. In einer repräsentativen Demokratie halte ich einen starken Einfluss der Parteien für notwendig, um auch eine arbeitsfähige Fraktion zu haben. Ob die Arbeitsfähigkeit der Fraktion die Stimmabgabe der Wähler prägt, kann ich nicht abschließend beurteilen, aber wenn der Bürgermeisterkandidat der SPD nur 13% der Hamburger bekannt ist, stimmt dies nicht gerade hoffnungsfroh, dass eine Personalauswahl praktisch ausschließlich durch die Wähler zu sachgerechteren Ergebnissen führt. Wenn aber eine Partei versucht, einen von den Wahlberechtigten anerkannten Kandidaten oder eine ebensolche Kandidatin durch eine schlechte Platzierung im Wahlkreis "abzustrafen", so haben die Wähler die Möglichkeit, dies zu korrigieren.
Und damit zur letzten Frage: ich halte es wie Henning Finck für wichtig, dass wir keine räumlich getrennten Wohnviertel für Deutsche und Nicht-Deutsche (bzw. Menschen mit Migrationshintergrund) haben. Räumliche Trennung bzw. unausgewogene Verteilung führt zur Gefahr von Parallelwelten, die das Gegenteil von Integration bewirken, und wenn ein Kind in einer solchen Parallelwelt aufwächst, wird es kaum Chancen haben, sich als Erwachsener in unsere Gesellschaft zu integrieren, Arbeit zu finden und dergleichen mehr. Gerade wegen der Kinder finde ich es gut, dass wieder mehr Deutsche auf die Veddel ziehen.
Mit freundlichen Grüßen
Bernd Reinert