Frage an Barbara Lochbihler von Johann L. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Sehr geehrte Fr. Lochbihler!
Die Europawahl´2014 steht kurz bevor und dennoch haben wir Bürger darüber noch viel zu wenig Information. Erfreulicherweise gibt es in den vergangenen Wochen Veröffentlichungen (z.B. Südd.Zeitg vom 2014-04-11) über die gewachsene Bedeutung des Europaparlamentes and damit auch die Bedeutung der bevorstehenden Wahl. Es fehlt noch an Information zur Entscheidung für die eine oder andere Partei. Manche Partei hat inzwischen ein Wahlprogramm im Internet veröffentlicht, doch damit werden sicher nur wenige Bürger erreicht, abgesehen davon, dass die dortigen Aussagen abstrakt und allgemein gehalten sind (ich habe z.B. das Programm der GRÜNEN gesichtet; die anderen Parteien hatten zu dem Zeitpunkt noch kein verabschiedetes Programm.)
Ich will zur Europawahl gehen und will wissen, was mich erwartet, wenn ich meine Stimme z.B. ihrer Partei gebe. Deshalb bitte ich um Antwort auf folgende Fragen:
Frage 1:
Welches sind aus der Sicht ihrer Partei heute die 3 wichtigsten bzw dringendsten Fragen in der Europapolitik und welche Initiativen wird ihre Partei dazu ergreifen?
Frage 2:
Welche Erfolge bei der Lösung jener 3 Fragen kann ihre Partei für die abgelaufene Wahlperiode vorweisen?
Sehr geehrter Herr Lemke,
vielen Dank für Ihre Anfrage. Zunächst freut es mich natürlich sehr, dass Sie vorhaben, sich an der Wahl am 25. Mai zu beteiligen. Uns Grünen ist es wichtig, möglichst viel Teilhabe an der oft fern wirkenden EU-Politik zu ermöglichen. Die Wahl für das, wie Sie zu Recht schreiben, immer ausschlaggebendere Europäische Parlament ist da ein erster Schritt, dem wir viele weitere Möglichkeiten der direkten Teilhabe folgen lassen wollen.
Dem von Ihnen angesprochenen Mangel an Informationen versuchen wir GRÜNE und ich ganz persönlich, transparente Kommunikation entgegenzusetzen. Allerdings verlangt es in der Tat einiges an Eigeninitiative, die nötigen Informationen zusammenzutragen, denn immer noch kommt europäische Politik meist dann in den Medien vor, wenn es Kritik hagelt. Ich lade Sie und alle Europäerinnen und Europäer ein, sich die Mühe zu machen, möglichst informiert zu bleiben. Nicht nur, weil mittlerweile ein Großteil aller Gesetze, die Sie in Ihrem Alltag betreffen, eine europäische Entscheidungskomponente haben. Sondern auch, weil ein genauer Blick schnell zeigt, dass trotz aller Kritik nicht Europa das Problem ist – sondern die europäische Politik der Intransparenz und nationalen bzw. lobbygeleiteten Interessen, die von den bestehenden Mehrheiten vorangetrieben wird.
Was Ihre Fragen betrifft, möchte ich Ihnen nicht drei, sondern gleich sechs unserer politischen Schwerpunkte darlegen.
ERSTENS. Wir wollen Klimaschutz ohne Grenzen statt Kohle und Atom. Konkret wollen wir die Treibhausgase in den nächsten 15 Jahren mehr als halbieren. Wie keine andere Partei kämpfen wir deshalb für ambitionierte Einsparungs- und Effizienzziele sowie für saubere und sichere Energie, die bezahlbar bleibt – und zwar auf europäischer Ebene. Denn eine europaweite Energiewende würde nicht nur unser Klima schützen und die Weichen für die folgenden Generationen stellen. Sie würde auch Arbeit schaffen und uns unabhängig machen von teuren Rohstoffimporten – auch aus Krisenregionen. Nach Tschernobyl hieß es, eine derartige Katastrophe komme statistisch gesehen einmal alle x tausend Jahre vor. Fukushima hat gezeigt, dass dem nicht so ist. Es reicht daher nicht, dass Deutschland alleine aus der Atomkraft aussteigt; es muss ein europäisches Projekt werden.
Erfolge waren da in der letzten Legislaturperiode leider selten. Gerade die CDU/CSU und ihre konservativen Kollegen aus anderen Mitgliedstaaten stehen in Europa für Kohle, Atom und Spritfresser. Bestes Beispiel dafür ist Energiekommissar Günter Oettinger, der Fortschritt offensichtlich als Bedrohung auffasst. Gemeinsam mit den Sozialdemokraten, für die Umwelt- und Klimaschutz auch im aktuellen Wahlprogramm keine Rolle spielt, konnten sie viele unserer Initiativen verhindern. Aber wir bleiben dran und werden weiter kämpfen für eine moderne, zukunftsfähige und bezahlbare Energiewende, die zudem Arbeit schafft - gerade in Krisenländern, die Zukunftsinvestitionen sehr viel nötiger haben als einen einseitigen und sozial unausgeglichenen Sparkurs.
ZWEITENS. Wir wollen gute Landwirtschaft statt Gentechnik und Massentierhaltung. Mehr als 80 Prozent der Deutschen sind gegen Gentechnik, im Essen und auf dem Acker. Dennoch hat sich Deutschland bei der Abstimmung zum Genmais 1507 in Brüssel enthalten – und damit den Weg für genetisch modifizierte Nahrungsmittel frei gemacht. Wir verteidigen hingegen die gentechnikfreie Landwirtschaft. Der ökologische Landbau ist eine Erfolgsstory, die wir fortschreiben wollen. Wir kämpfen gegen Monokulturen und tierquälerische Massentierhaltung. Und gerade aus meiner menschenrechtspolitischen Sicht ist es ein besonderes Anliegen, gegen die ruinöse Preis- und Subventionspolitik der Gemeinsamen Agrarpolitik zu kämpfen – denn die zerstört Märkte und Lebensgrundlagen weltweit.
Als Erfolg können wir verbuchen, dass der ökologische Landbau heute eine breite gesellschaftliche Unterstützung genießt, vor allem in Deutschland. Im Konkreten, vor allem bei der Reform der EU-Agrarpolitik, haben wir hingegen allenfalls das Schlimmste verhindern können. Unsere Forderungen nach Obergrenzen bei der Subventionspolitik, einer Bindung der finanziellen Unterstützung ans sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze statt Ackergröße, stärkerer Unterstützung kleinbäuerlicher Betriebe oder einer verpflichtenden Anwendung von Fruchtfolge und größeren Freiflächen scheiterten an den bestehenden Mehrheiten. Immerhin: In der Fischereipolitik konnten wir eine Reform durchsetzen, die der Überfischung der Meere zumindest ansatzweise entgegen wirkt.
DRITTENS. Wir mobilisieren gegen die jetzige Agenda des transatlantischen Handelsabkommens TTIP, das unsere sozialen und ökologischen Standards zu unterwandern droht. Wir fordern die Aussetzung der Verhandlungen und einen kompletten Neustart allenfalls auf Basis eines transparenten Verfahrens und eines neuen Verhandlungsmandates. Wir wollen keine Chlorhühner, kein Klonfleisch, keine Schiedsgerichte und keine giftigen Chemikalien in Europa. Wir GRÜNE werden keinem Abkommen zustimmen, das europäische Standards und Gesetze untergräbt.
Unser Erfolg in dem Bereich? Wir haben es gemeinsam mit zahlreichen zivilgesellschaftlichen Organisationen gegen den Widerstand von CDU, CSU, SPD und FDP geschafft, die geheimen Verhandlungen in der Öffentlichkeit zu thematisieren. Die Ablehnung des ACTA-Abkommens, das eine weitgehende (legale) Überwachung des Internetverkehrs ermöglicht hätte, hat gezeigt: Mit dem nötigen Bewusstsein in der Bevölkerung ist es möglich, die politischen Mehrheiten zum Umdenken zu bewegen. Sollte sich an den TTIP-Verhandlungen nichts ändern, wollen wir an diesen Erfolg anknüpfen.
VIERTENS. Wir wollen mehr Datenschutz, Gleichberechtigung und Toleranz. Weltoffenheit und Privatsphäre: Die EU soll für beides stehen. Für viele Europäerinnen und Europäer ist das aber noch Zukunftsmusik. Staaten spähen massenweise SMS sowie E-Mails aus und hören Telefonate mit. Homosexuelle müssen ihre Liebe verleugnen. Im Beruf stoßen viele Frauen an gläserne Decken. Und Rechtspopulisten machen Stimmung gegen Minderheiten und europäische Errungenschaften. Wir GRÜNE kämpfen für das Gegenteil. Wir wollen ein stärkeres weil anderes Europa, das sich für Datenschutz, für die Gleichberechtigung zwischen Frau und Mann, das sich gegen Diskriminierung und den Rückzug in längst überholte Denkmuster stellt.
Das Gedenken an den Ausbruch des Ersten Weltkriegs vor 100 Jahren bietet da übrigens die vermutlich eindrucksvollste der vielen Antworten auf die immer wieder aufgeworfene Frage, was Europa denn schon erreicht habe: Ganz unabhängig davon, dass auch ich deutlichen Änderungsbedarf in den europäischen Strukturen und Politiken sehe – die Tatsache, dass in der EU eine Generation aufwachsen darf, für die Krieg und Zerstörung in Europa ganz einfach unvorstellbar sind, stellt eine Errungenschaft sonders Gleichen dar. Dem eine nationalstaatliche Rückzugsidee der Abschottung entgegenzusetzen, ist mehr als anachronistisch – es ist die politisch verheerendste Position, die überhaupt vertreten werden kann. Dennoch erreichen die Befürworter derartiger Thesen immer mehr Wählerinnen und Wähler. Wie schon so oft in der europäischen Geschichte trifft die mal nachvollziehbare, mal konstruierte Enttäuschung über wirtschaftliche und gesellschaftliche Fehlentwicklungen bei rechtspopulistischen Parteien auf eine verführerisch vereinfachte Problemdarstellungen und noch simplere Lösungsvorschläge. In dem Zusammenhang liegt es an uns Politikerinnen und Politikern, aber auch an allen progressiven Bürgerinnen und Bürgern und den Medien, der Mär einer als gewinnbringend dargestellten Flucht in nationalstaatliche oder gar fremdenfeindliche Denkmuster einen europäischen und hoffnungsvollen Narrativ entgegenzusetzen. Wir GRÜNE vertreten das seit langem. Wer die Hoffnung hegt oder gar den Wunsch äußert, dass wir uns in dieser Frage anpassen, den muss ich enttäuschen.
Ein besseres Europa bedeutet allerdings nicht immer mehr Europa. Wir stehen klar zum Subsidiaritätsprinzip und sehen viele Bereiche, in denen die Entscheidungen besser und effizienter auf lokaler oder regionaler Ebene getroffen werden können. Zusammen mit der Europäischen Bürgerinitiative „Wasser ist Menschenrecht“ haben wir beispielsweise die Privatisierung der kommunalen Wasserversorgung vereitelt, da wir der Meinung sind, dass man den Kommunen in der Frage keine Vorschriften machen sollte.
FÜNFTENS. Wir wollen Flüchtlingen Schutz bieten und Grundrechte verteidigen. Starke Grüne sind der Garant für Menschenrechte in Europa. Wir kämpfen gegen die unmenschliche EU-Flüchtlingspolitik, die bereits tausende Todesopfer gefordert hat. Wir wollen Menschen in Lebensgefahr retten, Flüchtlingen ein faires Verfahren bieten und Fluchtursachen bekämpfen. Wir sind für Freizügigkeit und eine offene, freiheitliche Gesellschaft überall in Europa (auch in Ungarn) und gegen den massenhaften Export von Waffen aus Europa an Diktatoren.
Als Menschenrechtspolitikerin liegen natürlich hier meine persönlichen Schwerpunkte. Nach ereignisreichen Jahren bei der Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit in Genf und als Generalsekretärin von Amnesty International Deutschland arbeite ich seit 2009 daran, Menschenrechtspolitik im Europäischen Parlament voranzubringen. Als Vorsitzende des Ausschusses für Menschenrechte setze ich mich gemeinsam mit meinen Kolleginnen und Kollegen für die weltweite Abschaffung der Todesstrafe ein. Im Austausch mit den Verantwortlichen und über Parlamentsresolutionen kämpfen wir gegen weibliche Genitalverstümmelung und Folter, für die Meinungsfreiheit und das Recht auf Nahrung, oder wirken auf menschenrechtliche Reformprozesse in einzelnen Staaten und Regionen ein. Kurzum, wir nutzen die Einflussmöglichkeiten der EU, um die Umsetzung der politischen, bürgerlichen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte weltweit voran zu bringen.
Schließlich gehört es auch zu meiner Arbeit, menschenrechtlich besonders relevante Regionen zu bereisen und mich vor Ort in Gesprächen mit Regierung und Zivilgesellschaft kundig zu machen. So besuchte ich Länder wie Serbien, Burma, China, den Jemen, Saudi-Arabien, Katar oder die UN in Genf und New York.
Erreicht haben wir vieles: eine neue EU-Menschenrechts-Strategie, den Posten eines Sonderbeauftragten für Menschenrechte, den Exportstopp von Folterwerkzeug oder für staatliche Hinrichtungen genutzten Medikamenten an die USA, einen deutlicheren Druck auf FIFA und Katar in Vorbereitung der WM 2022, neue (wenngleich immer noch unzulängliche) Menschenrechtsvorschriften für die EU-Grenzschutzagentur Frontex ... die Liste ließe sich ebenso fortsetzen wie die der noch offenen Herausforderungen. Statt aber lange Aufzählungen zu veröffentlichen, empfehle ich Ihnen einen Blick auf zwei meiner ganz aktuellen Projekte: meine neue Studie zur Einhaltung der Menschenrechte an den EU-Außengrenzen ( http://barbara-lochbihler.de/cms/upload/PDF_2014/Barbara_Lochbihler_-_Zutritt_fuer_Fluechtlinge_verboten_EINZEL.pdf ) sowie die von mir initiierte GRÜNEN-Kampagne für strengere Kontrollen beim Export europäischer Überwachungstechnologie an autokratische Staaten: https://www.no-spyware-for-dictators.eu .
SECHSTENS und LETZTENS. Wir wollen gemeinsam aus der Krise. Es war gut und richtig, den Euro zu verteidigen. Denn er ist enorm wichtig für den wirtschaftlichen und politischen Erfolg Europas. Deshalb haben wir Grüne den Rettungsmaßnahmen zugestimmt. Doch in der Ausgestaltung der Euro-Rettungspolitik wurden schwerwiegende Fehler gemacht. Und die Wirtschafts- und Finanzkrise ist noch nicht vorbei. Die Wirtschaft in den Krisenstaaten ist massiv eingebrochen und hat die Arbeitslosigkeit dramatisch verschärft. Dazu hat die Politik des einseitigen Sparens beigetragen. Genauso hat die Politik ohne klares Bekenntnis für mehr Europa dazu geführt, dass Europa in vielen Ländern für sozialen Kahlschlag steht.
Wir brauchen eine Politik der Solidität UND Solidarität. Wir wollen einen Green New Deal, der gerade in den Staaten unter dem Euro-Rettungsschirm durch gezielte Investitionen die ökologische Modernisierung und die Energiewende voranbringt und so Zukunftsperspektiven schafft. In vielen Ländern sind dafür auch Reformen notwendig. Aber gleichzeitig brauchen die Länder, die Kredithilfe bekommen, einen Ausweg aus der Schuldenspirale und der hohen Arbeitslosigkeit. Und wir wollen die Banken an die Leine nehmen und die europäische Wirtschafts- und Finanzpolitik besser koordinieren. Damit zuerst an die Menschen gedacht wird – und dann an die Banken.
Ich hoffe, mit meiner ausführlichen Antwort ein wenig weitergeholfen zu haben. Sollten Sie weitere Anmerkungen haben, stehe ich jederzeit zur Verfügung.
Mit freundlichen Grüßen,
Barbara Lochbihler