Frage an Barbara Hendricks von Tim C. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Sehr geehrte Frau Dr. Hendricks,
ich möchte sie gerne Fragen, warum sie für die Vorratsdatenspeicherung gestimmt haben. Es handelt sich dabei offenbar um eine Maßnahme, die sämltichen demokratischen und freiheitlichen Prinzipien widerspricht, da sämtlich Bürger ohne Begründung dauerhaft bespitzelt werden.
Mit Bestürzung habe ich auch festgestellt, dass sie anscheinend bei allen Abstimmungen, an denen Sie teilgenommen haben (soweit hier ersichtlich) mit "Ja" abgestimmt haben. Deshalb möchte ich Sie gerne fragen, ob Sie sich mit den Themen tatsächlich vorher auseinandergesetzt haben und ihre Entscheidungen wirklich mit gutem Gewissen und Kenntnis aller relevanten Fakten getätigt haben, oder ob Sie einfach nur im Interesse Ihrer Partei handeln.
Sehr geehrter Herr Cappell,
ich möchte zunächst auf Ihre zweite Frage eingehen:
Es gibt keinen Grund, warum mein Abstimmungsverhalten bei Ihnen „Bestürzung“ hervorrufen sollte. Die Tatsache, dass ich bei allen namentlichen Abstimmungen seit Mai 2006 (die Abstimmungen, die bei abgeordnetenwatch.de aufgeführt sind, und auf die Sie sich beziehen) mit „Ja“ gestimmt habe, hat rein gar nichts damit zu tun, dass ich, wie Sie offenbar unterstellen, „einfach nur im Interesse“ meiner Partei handele, sondern, dass ich alle diese Entscheidungen ganz einfach für richtig gehalten habe.
Bitte verstehen Sie mich nicht falsch. Ich freue mich über Ihre Skepsis, denn unsere Demokratie lebt von wachsamen Bürgerinnen und Bürgern und davon, dass ich meine Entscheidungen vor ihnen stets zu rechtfertigen habe. Ihre Sorge ist in diesem Fall aber völlig unbegründet und ich möchte diese Gelegenheit nutzen, um Ihnen zu erläutern, warum:
Selbstverständlich – und ich denke, das kann jeder nachvollziehen – ist es einerseits für jeden einzelnen Abgeordneten es Deutschen Bundestages völlig unmöglich, sich in jedes Thema, das im Deutschen Bundestag behandelt wird und in einer Abstimmung mündet, einhundertprozentig einzuarbeiten. Andererseits aber können Sie sich absolut sicher sein, dass, bevor ich als Abgeordnete an einer namentlichen Abstimmung teilnehme, ich über alle relevanten Fakten zum Thema so weit informiert bin, dass ich meine Entscheidung nach bestem Wissen und Gewissen frei treffen kann.
Der Weg, den ein Gesetz bis zu seiner Verabschiedung geht, ist in der Regel lang. Bis zur Abstimmung durch die Abgeordneten werden oft langwierige Diskussionen innerhalb der Fraktionen, in den zuständigen Ausschüssen und Arbeitsgruppen und auch außerhalb des Bundestages, bspw. innerhalb der Bundesregierung oder in den sogenannten Koalitionsrunden und Parteigremien, geführt. Diese Arbeit erledigen zum großen Teil die jeweiligen Fachpolitiker. Im Falle der „Vorratsdatenspeicherung“ traf dies bspw. auf die Abgeordneten zu, die sich schwerpunktmäßig mit Rechts- oder Innen- und Sicherheitspolitik beschäftigen. Die übrigen Abgeordneten werden während dieses Prozesses laufend „auf dem Stand der Dinge“ gehalten. Dies geschieht vor allem in den Fraktionssitzungen, die in den Sitzungswochen abgehalten werden, in Sondersitzungen der Fraktionen oder auch schriftlich durch Informationen, die von den Fachpolitikern und den Experten der Fraktionsarbeitsgruppen ausgearbeitet werden. Darüber hinaus werde ich als Abgeordnete durch meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter informiert und kann den unabhängigen „Wissenschaftlichen Dienst“ des Bundestages und andere Experten hinzuziehen.
Dies war nur eine stark verkürzte Darstellung eines Meinungsbildungsprozesses unter den Abgeordneten. Sie sehen, dass es an Informationen während eines Gesetzgebungsprozesses nicht mangelt. Zudem hat es letztendlich auch etwas mit einem gewissen „Vertrauen“ zu tun, um dass ich Sie als Wähler bitte, und das Sie mir als Abgeordnete schenken sollten.
Laut Artikel 38, Absatz 1, des Grundgesetzes bin ich als Abgeordnete des Deutschen Bundestages „Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur (meinem) Gewissen unterworfen.“ Sie können davon ausgehen, dass ich mich als Abgeordnete ganz exakt an diese Vorgaben halte und keine Entscheidung – schon gar keine so wichtige wie bspw. über die sog. „Vorratsdatenspeicherung“ – treffe, ohne dass ich in ausrechender Weise über alle relevanten Fakten informiert bin.
Nun zu Ihrer ersten Frage, in der Sie von mir wissen möchten, warum ich für die sog. „Vorratsdatenspeicherung“ gestimmt habe.
Ich möchte Ihre Frage zum Anlass nehmen, Ihnen einen umfassenden Überblick über das Gesetz zur Novelle der Telekommunikationsüberwachung und zur Umsetzung der europäischen Richtlinie zur sogenannten Vorratsdatenspeicherung zu geben.
Das Gesetz
• novelliert die geltenden Vorschriften der Strafprozessordnung zur Telekommunikationsüberwachung und anderen verdeckten Ermittlungsmaßnahmen,
• setzt die EU-Richtlinie zur sogenannten Vorratsdatenspeicherung in deutsches Recht um
• und sorgt für grundrechtswahrende Verfahrenssicherungen bei heimlichen Ermittlungsmaßnahmen.
Bereits unter rot-grüner Regierung hatte die Novelle ihren Anfang genommen. Der vom Bundesjustizministerium erarbeitete Entwurf konnte aufgrund des vorzeitigen Endes der 15. Legislaturperiode zunächst nicht weiterverfolgt werden. Das nun vorliegende Gesetz hat diese Arbeiten weitergeführt. Zwischenzeitliche Entwicklungen sind in ihm berücksichtigt. Zum einen sind es Anpassungen wegen der Notwendigkeit, die eingangs erwähnte EU-Richtlinie umzusetzen, zum anderen waren Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts unter anderem zum einfachgesetzlichen Schutz des Kernbereichs privater Lebensgestaltung zu beachten.
Wir haben bei dem Gesetz einerseits im Auge behalten, dass der Staat für unsere Sicherheit zu sorgen hat und daher die berechtigten Strafverfolgungsinteressen des Staates angemessen berücksichtigt werden müssen.
Andererseits greifen verdeckte Ermittlungsmaßnahmen aber regelmäßig in die Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger ein, so dass für ihre Anordnung strenge Voraussetzungen gelten und der Rechtsschutz wirksam ausgestaltet sein müssen. Deshalb haben wir das Telekommunikationsüberwachungsrecht weiter rechtsstaatlich eingegrenzt. Dadurch liegen die Hürden für die Durchführung einer Telekommunikationsüberwachung in Zukunft noch höher als jetzt. Dabei gilt künftig wie bisher, dass sie – wie künftig bei jeder eingriffsintensiven verdeckten Ermittlungsmaßnahme auch – grundsätzlich nur durch einen Richter angeordnet werden darf.
Hürde Nr. 1: Vorliegen einer schweren Straftat
Neu ist dabei, dass Straftaten grundsätzlich nicht in Frage kommen, die im Höchstmaß mit weniger als fünf Jahren Freiheitsstrafe bedroht sind. Die Tat muss – auch diese ausdrückliche Regelung ist neu – auch im konkreten Einzelfall schwer wiegen.
Hürde Nr. 2: Kernbereichsschutz
Eine Telekommunikationsüberwachung ist unzulässig und hat zu unterbleiben, wenn tatsächliche Anhaltspunkte vorliegen, dass durch die Überwachung allein Erkenntnisse aus dem Kernbereich der privaten Lebensgestaltung erlangt würden.
Hürde 3: Berufsgeheimnisträgerschutz
Soll ein Berufsgeheimnisträger wegen des Ermittlungsverfahrens gegen einen Dritten, an dem er selbst in keiner Weise beteiligt ist, überwacht werden, gilt Folgendes:
Das Vertrauensverhältnis zu Seelsorgern, Strafverteidigern und Abgeordneten wird absolut geschützt. Sie haben eine besondere verfassungsrechtlichen Stellung. Deshalb sind sie von allen Ermittlungsmaßnahmen ausgenommen, die sich auf die Informationen beziehen, die ihnen in ihrer Eigenschaft als Berufsgeheimnisträger anvertraut wurden.
Bei Ärzten, Rechtsanwälten, Journalisten und allen anderen zeugnisverweigerungsberechtigten Berufsgeheimnisträgern wird ausdrücklich klargestellt, dass sie in Ermittlungsmaßnahmen künftig nur nach einer sehr sorgfältigen Verhältnismäßigkeitsabwägung im Einzelfall in Ermittlungsmaßnahmen einbezogen werden dürfen. Für die Abwägung gibt es zudem einen ausdrücklichen Maßstab im Gesetz: Betrifft das Verfahren keine Straftat von erheblicher Bedeutung, ist in der Regel nicht vom Überwiegen des Strafverfolgungsinteresses auszugehen. Eine Straftat ist nur dann von erheblicher Bedeutung, wenn sie
- mindestens dem Bereich der mittleren Kriminalität zugerechnet werden kann,
- den Rechtsfrieden empfindlich stört und
- dazu geeignet ist, das Gefühl der Rechtssicherheit der Bevölkerung erheblich zu beeinträchtigen.
Ergibt die Prüfung also, dass es bei der Ermittlung nicht um eine erhebliche Straftat geht, sind jegliche Ermittlungsmaßnahmen gegen den Berufsgeheimnisträger regelmäßig unzulässig, weil unverhältnismäßig.
Hürde Nr. 4: Berufsgeheimnisträgerschutz bei Verstrickung
Besteht gegen den Berufsgeheimnisträger, etwa einen Journalisten, selbst ein Beteiligungs- oder Begünstigungsverdacht, so können nach geltendem Recht zum Beispiel Unterlagen bei ihm beschlagnahmt werden, wenn diese für die Aufklärung einer Straftat relevant sind. Künftig muss sich die Annahme des Verstrickungsverdachts auf bestimmte Tatsachen gründen, so dass eine sorgfältige, sich auf konkrete Tatsachen stützende Prüfung erforderlich werden wird.
Hürde Nr. 5: Beweisverwertungsverbot bei Zufallsfunden
Ein Zufallsfund ist Material, das auf eine Straftat hindeutet, aber nichts mit der Untersuchung zu tun hat, wegen derer eine Durchsuchung angeordnet wurde. Bei Journalisten dürfen solche Zufallsfunde künftig nicht als Beweise in einem Verfahren wegen Geheimnisverrats oder wegen sonstiger Straftaten, die mit einem Höchstmaß von unter fünf Jahren Freiheitsstrafe bedroht sind, verwertet werden.
Das neue Gesetz enthält darüber hinaus Anpassungen wegen der Notwendigkeit, die EU-Richtlinie zur sogenannten Vorratsdatenspeicherung (2006/24/EG) in deutsches Recht umzusetzen. Auch hier haben wir im Bewusstsein der Verantwortung für eine wirksame Kriminalitätsbekämpfung unsere Verpflichtung für Bürgerrechte ernst genommen und dafür Sorge getragen, dass die EU-Vorgaben so grundrechtsschonend wie möglich gestaltet wurden. So ist es Deutschland gegen den Widerstand vieler anderer Mitgliedstaaten gelungen, dass die Mindestspeicherungsdauer auf sechs Monate (statt der ursprünglich auf EU-Ebene diskutierten 36 Monate) beschränkt wurde. Dies ist ein vom Deutschen Bundestag wirksam unterstützter Verhandlungserfolg der Bundesregierung auf EU-Ebene.
Die wegen der Umsetzung künftig zu speichernden Daten sind im Wesentlichen die Verkehrsdaten, die von den Telekommunikationsunternehmen schon heute üblicherweise zu Abrechnungszwecken gespeichert werden. Das sind insbesondere die genutzten Rufnummern und Kennungen sowie Uhrzeit und Datum der Verbindungen. Neu hinzu kommt nur, dass bei der Mobilfunktelefonie auch der Standort (Funkzelle) bei Beginn der Mobilfunkverbindung gespeichert wird. Daten, die Aufschluss über den Inhalt der Kommunikation geben, dürfen dagegen nicht gespeichert werden.
Zu den Telekommunikationsverkehrsdaten gehören neben den Daten über Telefonverbindungen auch solche Daten, die bei der Kommunikation über das Internet anfallen. Diese müssen nach der EU-Richtlinie künftig ebenfalls gespeichert werden. Auch in diesem Bereich werden nur Daten über den Internetzugang und die E-Mail-Kommunikation gespeichert. Dabei speichert das TK-Unternehmen lediglich, welchem Teilnehmeranschluss eine bestimmte Internetprotokoll-Adresse (IP-Adresse) zu einem bestimmten Zeitpunkt zugewiesen war sowie die Daten über die E-Mail-Versendung, nicht dagegen, welche Internetseiten besucht wurden oder welchen Inhalt eine E-Mail hatte.
Die Daten werden – wie bisher – nur bei den TK-Unternehmen gespeichert. Wie bisher schon können Polizei und Staatsanwaltschaft grundsätzlich nur dann auf die Daten zugreifen, wenn dies zuvor durch einen richterlichen Beschluss erlaubt wurde. In diesem Beschluss legt der Richter genau fest, welche Daten das Unternehmen aus seinem Bestand herausfiltern und den Strafverfolgungsbehörden übermitteln muss.
Für alle verdeckten Ermittlungsmaßnahmen gilt darüber hinaus eine Reihe von Verfahrensregelungen. Sie verbessern den Grundrechtsschutz aller, die von verdeckten Ermittlungsmaßnahmen betroffen sind:
• Richtervorbehalt bei allen eingriffsintensiven verdeckten Ermittlungsmaßnahmen.
• Konzentration der Zuständigkeit für die Anordnung einer Maßnahme beim Ermittlungsgericht am Sitz der Staatsanwaltschaft, um dessen größere Spezialisierung zu erreichen.
• Umfassende, gerichtlich kontrollierte Benachrichtigungspflichten.
• Einführung eines nachträglichen Rechtsschutzes bei allen verdeckten Ermittlungsmaßnahmen.
• Einführung von einheitlichen Kennzeichnungs-, Verwendungs- und Löschungsregelungen.
Ich habe dem Gesetz vor allem deshalb zustimmen können, weil die SPD-Bundestagsfraktion in den parlamentarischen Beratungen zu diesem Gesetz dafür Sorge getragen hat, dass der Einsatz verdeckter Ermittlungsmaßnahmen zum Zweck der Kriminalitätsbekämpfung und dem Schutz vor schweren Straftaten mit hohen, grundrechtssichernden Schwellen verknüpft ist, so dass das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit gewahrt bleibt.
Mit freundlichen Grüßen
Dr. Barbara Hendricks