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Frage von Markus M. •

Frage an Annette Schavan von Markus M. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen

Sehr geehrte Frau Schavan,

inwieweit werden Untersuchungen zum Thema "Benachteiligung durch Vorurteile und Verallgemeinerungen deutscher Lehrkräfte in der Begegnung mit islamisch-stämmigen Schülerinnen und Schülern" durchgeführt?

Sowohl als Ehemann einer Einwanderertochter, als auch als Pädagoge und in der langjährigen neutralen Auseinandersetzung mit diversen Statistiken muss ich auf solche Untersuchungen drängen.

Zumindest in der Provinz beobachte ich da peinliche Diskriminierungen.

Vergleiche ich den Bildungsweg meiner Frau und ihrer Geschwister mit meinem eigenen als Kind eines Gymnasiallehrers, so muss ich feststellen:

Obwohl meine Frau bereits mit 5 Jahren deutsch nicht nur fließend sprechen, sondern auch bereits lesen und schreiben konnte wurde sie nicht etwa früher eingeschult, sondern vielmehr auf einer Vorschule "geparkt".
Später verlor sie ein weiteres Jahr, als die Rektorin einer katholischen Schule trotz eines hervorragenden Realschulzeugnisses den Zugang zur Fachabiturausbildung nur über ein unsinniges Hauswirtschaftsjahr zubilligte.

Auch in der nächsten Generation unserer Nichte und unseres Neffen bleiben aktuell systematische Diskriminierungen im Bildungssystem an der Tagesordnung.
(Ich habe vor Kurzem viel Kraft und Nerven eingesetzt, damit unser Neffe nicht - wie viele andere Kinder aus Einwandererfamilien - auf eine Hauptschule empfohlen wurde.)

Und wie war es bei mir?
Ich hätte ohne die Lobby einer bildungsreichen Familie nie mein Abitur bekommen.

Deutschland bindet den MigrantInnen die Hände auf den Rücken und beschwert sich dann, wenn die Menschen den Ball nicht fangen. Es ist ein Prozess der "Selffullfilling Prophecy", wenn Menschen ins Abseits geraten oder dort verharren, weil sie erkennen, dass man ihnen eine ihren Fähigkeiten entsprechende Mitwirkung an der Gesellschaft verbaut.

Über eine Antwort würde ich mich freuen.
(Frau Böhmer blieb mir diese leider schuldig...)

Viele Grüße
Markus Mattern

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Antwort von
CDU

Sehr geehrter Herr Mattern,

vielen Dank für Ihre Email vom 18. Oktober und Ihre Hinweise auf die bestehenden Forschungsdefizite. Ihre Frage will ich, so gut es geht, unter Heranziehung des Forschungsstandes, wie folgt beantworten und Ihnen auch die Aktivitäten des BMBF in diesem Bereich darstellen.

Untersuchungen zu dem von Ihnen genannten spezifischen Thema "Benachteiligung durch Vorurteile und Verallgemeinerungen deutscher Lehrkräfte in der Begegnung mit islamisch-stämmigen Schülerinnen und Schülern" gibt es in Deutschland nicht. Die Frage möglicher Vorurteile und/oder Zuschreibungen von Lehrkräften gegenüber Schülerinnen und Schülern, insbesondere auch solcher mit Migrationshintergrund, gehört allerdings zu den zentralen Forschungsfragen sowohl der Schulforschung als auch der Migrationsforschung, die in den letzten Jahren auch in den deutschsprachigen Ländern verstärkt in den Blick rücken. Diese Forschung knüpft an umfangreiche US-amerikanische Studien zum sogenannten Pygmalion-Effekt (Rosenthal/Jacobson: Pygmalion in the Classroom 1968) an, das heißt zu der Frage, ob sich Erwartungen von Lehrkräften an die Leistungsfähigkeit von Schülern in einer Art "selbsterfüllender Prophezeiung" niederschlagen. Folgestudien zeigten allerdings unterschiedliche Wirkungen solcher Vorannahmen bei den (verschiedenen) Schülern (Brophy/Good 1974).

Von Interesse ist diese Frage zum Beispiel im Hinblick auf die Übergangsempfehlungen der Grundschule. Hier zeigten ältere Untersuchungen eine hohe prognostische Unsicherheit des Lehrerurteils, das heißt, dass zwar zum Beispiel Schüler mit Gymnasialempfehlung eher erfolgreich das Gymnasium durchlaufen, aber die Erfolgsquoten von Schülern mit Realschul- oder gar Hauptschulempfehlung immer noch recht hoch waren. Untersuchungen zeigten ebenso, dass die Lehrerurteile eher zugunsten der Schüler aus höheren sozialen Schichten ausfielen. Einflussfaktoren sind dabei Umgangsformen und Sozialverhalten des Schülers sowie ein größeres Vertrauen in die Eltern, ihre Kinder auf dem weiteren Bildungsweg bei Schwierigkeiten besser unterstützen zu können. Neuere Untersuchungen (zum Beispiel LAU in Hamburg, Ditton in Bayern) legen nahe, dass es eine "sozialspezifische Attribution von Begabungen" durch die Lehrkräfte sowie eine sozialspezifisch stereotype Wahrnehmung der Schülerfähigkeiten und -leistungen gibt. So erhielten nach der LAU-Studie Kinder, deren Väter das Abitur haben, zu 70 Prozent eine Gymnasialempfehlung, während Kinder von Vätern ohne Schulabschluss diese nur zu 16 Prozent erhielten. Mädchen, aber auch Kinder mit Migrationshintergrund wurden allerdings günstiger beurteilt, während Kinder von Eltern mit niedrigen Schulabschlüssen und Kinder von Alleinerziehenden höhere Leistungen vorweisen müssen, um eine Gymnasialempfehlung zu erhalten. Die bedeutsamsten Einflussfaktoren waren die Deutschnote, die allgemeine Schulleistung, die Mathematiknote und der Beruf des Vaters. Auch im weiteren Schulverlauf zeigte sich eine "durch die Fachleistung nicht gedeckte tendenzielle Bevorzugung von Kindern, deren Eltern einen höheren Schulabschluss besitzen". Kinder aus unteren Schichten werden, gemessen an ihren tatsächlichen Leistungen, zu schlecht, Kinder aus höheren Schichten zu gut benotet. Weitere Einflüsse sind aber das vorhandene Schulangebot und die Schulwahlentscheidungen der Eltern. Dabei zeigt sich durchweg, dass die Bildungsentscheidungen der Eltern sozial selektiver sind als die der Lehrer. Je niedriger der Bildungsabschluss, desto weniger wählen Eltern höher qualifizierende Bildungswege für ihre Kinder.

Das BMBF hat zur Übergangsthematik die sog. TIMSS-Übergangsstudie "Der Übergang von der Grundschule in die weiterführende Schule. Leistungsgerechtigkeit und regionale, soziale und ethnisch-kulturelle Disparitäten" gefördert ( http://www.uebergang.mpg.de/uebergang/ ) und als Band 34 der Reihe "Bildungsforschung" veröffentlicht: http://www.bmbf.de/pub/bildungsforschung_band_vierunddreissig.pdf . Hier könnte für Sie besonders das Kapitel 14 ("Die Einschätzung lernrelevanter Schülermerkmale zum Zeitpunkt des Übergangs von der Grundschule auf die weiterführende Schule: Wie differenziert urteilen Lehrkräfte?") von Interesse sein. Die Studie fand drei Faktoren, nach denen Lehrkräfte bei der Schülerbeurteilung differenzieren: 1. Begabung und Fähigkeiten, 2. soziale Merkmale sowie 3. motivationale Aspekte und Tugenden. Die Einschätzungen sind demnach nicht eindimensional, sondern mehrdimensional. Sie stehen nur in geringem bis moderatem Zusammenhang mit dem Geschlecht, dem Migrationshintergrund und dem sozioökonomischen Status der Familien der Schüler.

Insgesamt gibt es nach Lage der Forschung keinen Anlass, anzunehmen, dass Lehrkräfte gezielt sozial diskriminieren. Hier schlagen, wenn, dann eher "implizite Persönlichkeits- und Begabungstheorien" durch, die sich auf die Diagnosekompetenz auswirken. Eine hohe Unterrichtsqualität verbunden mit einer hohen diagnostischen Sensibilität der Lehrkräfte kann solche Verzerrungen relativieren.

Im Hinblick auf Ihre spezielle Frage nach Vorurteilen und Verallgemeinerungen kann man bisher nur auf internationale Studien zurückgreifen: So konnten mehrere US-amerikanische Studien der 1990er Jahre zeigen, dass (weiße) Lehrkräfte die Leistungsfähigkeit schwarzer Schüler unter Umständen schlechter als die weißer Schüler beurteilen (Annahme "kultureller Defizite"). Ebenso konnten amerikanische Untersuchungen zeigen, dass sich stereotype Annahmen über bestimmte Migrantengruppen (hier: Blacks, Hispanics), die die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe mit geringen intellektuellen Fähigkeiten in Verbindung bringen,negativ auf deren Leistungen auswirken (Übersicht bei Diefenbach 2007). "Stereotype Threat" ("Bedrohung durch Stereotype", das heißt die Angst, dass die eigenen Leistungen auf Basis von negativen Stereotypen über die eigene Gruppe beurteilt werden) kann danach die Leistungsfähigkeit (etwa während einer Prüfung) vermindern Schofield/Alexander/Bangs/Schauenburg 2006). Studien in Deutschland zu solchen Fragen stehen derzeit noch aus. Studien zu "institutioneller Diskriminierung" (Gomolla/Radtke 2009, 3. Aufl.) von Schülern mit Migrationshintergrund durch die Schule sind bisher nur spärlich und kommen zu unterschiedlichen Ergebnissen. Die Theorie der "Bedrohung durch Stereotype" wird in Deutschland erst seit kurzem rezipiert.

Das BMBF fördert in umfangreichem Maße empirische Forschungen, die sich - mittelbar und unmittelbar - auch Fragen des Einflusses der Lehrkräfte auf den Bildungserfolg zuwenden, unter anderem:

- Das seit 2009 vom BMBF geförderte "Nationale Bildungspanel" (NEPS) widmet sich in seiner Säule 4 dem "Bildungserwerb von Personen mit Migrationshintergrund im Lebenslauf" ( http://www.uni-bamberg.de/neps/struktur/saeulen/migranten/ ). Dabei werden auch die institutionsspezifischen Einflussfaktoren unter anderem auf Bildungsentscheidungen erfasst.

- Das BMBF fördert empirische Forschung zur Professionalisierung des pädagogischen Personals (einschließlich diagnostischer Kompetenzen) mit dem Ziel, wissenschaftlich fundiert Qualifizierungsprozesse der pädagogischen Fachkräfte zu unterstützen ( http://www.empirische-bildungsforschung-bmbf.de/zeigen.html?seite=6355 ).

- Im Rahmen des ab 2011 geplanten Forschungsschwerpunktes "Chancengerechtigkeit und Teilhabe" wurden ausdrücklich Forschungen "zu institutionell bedingten Hemmnissen (Optimierung der institutionellen Handlungsbedingungen, Erwartungen und "Zumutungen" der Lehrkräfte, "Pygmalion-Effekt", gruppenspezifische Zuschreibungen) beim Übergang in das weiterführende Schulsystem oder in die berufliche Ausbildung" ausgeschrieben ( http://www.bmbf.de/foerderungen/14338.php ).

Auf der Homepage des BMBF http://www.empirische-bildungsforschung-bmbf.de/ können Sie sich laufend über den Stand der vom BMBF geförderten Forschung informieren. Darüber hinaus empfehle ich Ihnen zu Ihrer Frage die nachstehende Literatur:

Diefenbach, H. (2010): Kinder und Jugendliche aus Migrantenfamilien im deutschen Bildungssystem. Erklärungen und empirische Befunde. 3. Aufl. Wiesbaden: VS; Alexander, K.M./Schofield, J.W. (2008): Understanding and Mitigating Stereotype Threat´s Negative Influence on Immigrant and Minority Students´ Academic Performance. In: Kalter, F. (Hrsg.): Migration und Integration. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 48. Wiesbaden: VS, S. 529-552 (Überblick in http://www.wzb.eu/alt/aki/files/aki_forschungsbilanz_5_kurz.pdf); Ditton, H. (2004): Der Beitrag von Schule und Lehrern zur Reproduktion von Bildungsungleichheit. In: Becker, R./Lauterbach, W. (Hrsg.), Bildung als Privileg? Erklärungen und Befunde zu den Ursachen der Bildungsungleichheit. Wiesbaden: VS, S. 251-279; Richert, P. (2005): Typische Sprachmuster der Lehrer-Schüler-Interaktion. Empirische Untersuchung zur Feedbackkomponente in der unterrichtlichen Interaktion. Bad Heilbrunn: Klinkhardt.

Insgesamt stimme ich Ihnen zu, dass zu der von Ihnen genannten Frage noch genauere Untersuchungen erforderlich sind, und bin sicher, dass diese künftig noch stärker Berücksichtigung finden werden.

Seien Sie herzlich und mit guten Wünschen gegrüßt. Ihre Annette Schavan