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Annalena Baerbock
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Frage von Helge E. •

Frage an Annalena Baerbock von Helge E. bezüglich Europapolitik und Europäische Union

Hallo Frau Baerbock,

in Ihrem Wahlprogramm steht, dass Sie gerne den Wiederaufbaufond (1.000.000.000.000 EUR) verstetigen und den EU-Haushalt (40% zahlt D) erhöhen möchten. Dazu möchten Sie die EU auf dem Weg zur Förderalen Europäischen Republik bringen.
Ich habe hierzu bitte die folgenden Fragen an Sie, damit ich mir ein Bild für die Bundestagswahl machen kann:

Was verstehen Sie genau unter einer Förderalen Europäischen Republik?
Soll es hierzu auch einen Finanzausgleich geben, so wie wir es auch in Deutschland innerhalb der Bundesländer kennen?
Möchten Sie zudem die europäischen Schulden vergemeinschaften?

Ich bitte Sie um konkrete Antworten bezüglich meinen drei Fragen.

Vielen Dank im Voraus.
Viele Grüße
Helge Elsner

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Antwort von
Bündnis 90/Die Grünen

Sehr geehrter Herr Elsner,

vielen Dank für Ihre Nachricht. Für uns Grüne ist völlig klar, dass immer mehr globale Herausforderungen wie der Klimawandel oder die Verteidigung unserer liberalen Werte und Interessen etwa gegenüber China nur mit einer starken Europäischen Union zu meistern sind. Dazu ist eine handlungsfähige Europäische Union notwendig, die von ihren Bürgerinnen und Bürgern aktiv und demokratisch mitgestaltet wird.

In den letzten Jahren sah sich die EU mit großen Krisen konfrontiert, die die Defizite der EU offengelegt haben: in der Finanz-, Flüchtlings- und Coronakrise, beim Brexit oder den Rechtsstaatskrisen etwa in Ungarn oder Polen. Leider blieb die Bundesregierung selbst auf die neuen europäischen Reformimpulse des französischen Präsidenten Macron viel zu lange viel zu passiv. Jetzt gibt es mit der Konferenz zur Zukunft Europas eine neue Chance, um gemeinsam mit den Bürgerinnen und Bürgern weitere Schritte der Europäischen Integration zu vereinbaren, die angesichts der Ereignisse und erkannten Defizite lange überfällig sind.

Deshalb ist unser Fixstern eine Weiterentwicklung der Europäischen Union hin zu einer Föderalen Europäischen Republik mit einer europäischen Verfassung. Dabei geht es nicht um die Auflösung der Nationalstaaten, sondern um eine neue, sinnvolle Aufgabenverteilung zwischen den Ebenen. "Mehr Europa" gilt für uns deshalb nur dort, wo die EU durch notwendiges und sinnvolles gemeinsames Handeln besser in der Lage ist, den Bürger*innen zu dienen als die nationalstaatliche, regionale oder kommunale Ebene. Öffentliche Daseinsvorsorge und kommunale Selbstverwaltung müssen -nach wie vor- vor Ort gestaltet werden.

Wo die Übertragung von nationalstaatlichen Entscheidungsbefugnissen auf die europäische Ebene notwendig und sinnvoll ist, muss klar sein: Dort wo nationale Parlamente Kompetenzen abgeben, muss das Europäische Parlament an Kompetenzen gewinnen, braucht es ein europäisches Wahlrecht mit transnationalen Listen. Um lähmende Blockaden in der Außen-, Sozialpolitik oder bei der Steuerharmonisierung zu überwinden brauchen wir künftig Mehrheitsentscheidungen. Die Rechtsstaatlichkeit in allen Mitgliedstaaten als Basis eines einheitlichen europäischen Rechtsraums muss wirksamer geschützt, die europäische Grundrechte-Charta direkt einklagbar werden, damit die Bürgerinnen und Bürger immer und überall den größtmöglichen Schutz erhalten.

Gerade die Corona-Krise hat uns vor Augen geführt, wie wichtig Solidarität ist – auch wenn es um finanzielle Hilfe beim zukunftsfähigen sozio-ökologischen Neuaufbau der Wirtschaft im Binnenmarkt nach der Pandemie geht. Deshalb sind die Einrichtung des zeitlich begrenzten Corona-Wiederaufbaufonds und die Mittelaufnahme der EU über zinsgünstige Anleihen wichtige erste Schritte. Hierbei geht es nicht um eine Vergemeinschaftung von Schulden, sondern um europäische Solidarität. Denn die EU, nicht die Mitgliedsländer, verschulden sich über gemeinsame Anleihen – dafür haftet auch die EU als Ganzes. Um die gemeinsamen EU-Anleihen zu finanzieren, müssen die Mitgliedsstaaten schnellstmöglich den Weg für neue EU-Eigenmittel frei machen, etwa eine wirksame Plastikabgabe, den CO2-Ausgleichsmechanismus, einen erweiterten Emissionshandel sowie eine Digital- und Finanztransaktionssteuer. Wir glauben aber, dass es auch dauerhaft eines Investitions- und Stabilitätsinstrumentes einschließlich der flexiblen Ausgabe von Anleihen bedarf, weil wir mit der sozial-ökologischen Transformation unserer Wirtschaft vor einer Jahrtausendaufgabe stehen, die wie nie zuvor den Zusammenhalt in Europa erfordert.

Mit den EU-Fonds zur strukturellen Anpassung in den Mitgliedstaaten, dem Europäischen Stabilitätsmechanismus, aber auch jetzt mit dem Wiederaufbaufonds geht schon heute eine verstärkte Auszahlung an Mitteln an bedürftigere Mitgliedstaaten ganz im Sinne eines Finanzausgleichs einher. Dies wollen wir weiter verstärken, gerade auch weil wir wissen, dass die Europäische Zentralbank den Euro und den Binnenmarkt alleine nicht dauerhaft wird stabilisieren können. Deshalb wollen wir eine gemeinsame Fiskalpolitik mit einem dauerhaften Investitions- und Stabilitätsinstrument, einem Europäischen Währungsfonds, eine Europäische Arbeitslosenrückversicherung. Das soll aber nicht schrankenlos geschehen. Mit einem reformierten Stabilitäts- und Wachstumspakt schaffen wir die richtige Balance zwischen Haushaltsdisziplin und notwendigen Investitionen. Für uns ist klar: Nur mit ausreichenden Investitionen und Stabilität in allen Mitgliedstaaten können wir gefährliche Schieflage im Binnenmarkt nachhaltig und dauerhaft beseitigen. Das liegt im Interesse Deutschlands und seiner Bürgerinnen und Bürger.

Mit freundlichen Grüßen
Team Annalena Baerbock

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