Sehen Sie die Entstehung einer „neuen ostdeutschen Identität“?
Dirk Oschmann‘s Buch „Der Osten: Eine westdeutsche Erfindung“ wurde rasch zum Bestseller und traf offenbar einen Aspekt, den weit mehr Menschen beschäftigt als offiziell eingeräumt wird. Insbesondere der Ukrainekrieg bzw. die Reaktion der deutschen Politik darauf, beschleunigte den Prozess der Bildung einer neuen ostdeutschen Identität. Wie positionieren Sie sich zum Thema ostdeutsche Identität? Gibt es so etwas überhaupt? Falls doch, wäre etwas mehr Autonomie für die ostdeutschen Bundesländer ein politisches und wirtschaftliches Ziel? Letztlich um den Mehrheitsverhältnissen in der ostdeutschen Bevölkerung gerecht zu werden und den spezifischen gesellschaftlichen Interessen Gehör zu verschaffen? Bildung, Gesundheitsfürsorge, Gleichberechtigung, Militarisierung, Verfassung etc. sind Themenfelder, auf denen beim Anschluss der neuen Bundesländer entscheidende Fehler gemacht wurden. Bestätigen Sie einen solchen Prozess? Falls ja, wie wollen Sie darauf reagieren?
Sehr geehrter Herr G.,
meine subjektive Empfindung ist, dass es schon einen recht großen Teil der ostdeutschen Bevölkerung gibt, die sich selbst als Ostdeutsche identifizieren und dass betrifft nicht nur die Generation, die selbst noch in der DDR gelebt hat. Auch bei Jugendlichen insbesondere im ländlichen Raum, wird die Ostdeutsche Identität gelebt, sei es durch Musik mit eindeutigen Liedtexten oder der wieder verstärkt aufblühenden Liebe zur Simson oder dem Trabant. Sicherlich spielt dabei auch das damalige Verhältnis zur UdSSR eine Rolle dabei, dass Bürger in Ostdeutschland die russischen Argumente hinsichtlich Ukrainekrieg teilweise anders bewerten als in Westdeutschland. Ob mehr Autonomie für die Ostdeutschen Bundeländer aber hier zielführend wäre, möchte ich bezweifeln. Wichtig ist es vielmehr, dass die Politik in den Lösungsansätzen differenzierter auf die Anforderungen der unterschiedlichen Regionen eingeht. Hier sehe ich aber vorwiegend die Unterschiede zwischen städtisch und ländlich geprägten Gebieten. Sicherlich ist bei der Wiedervereinigung nicht alles perfekt gelaufen aber Dinge aus der Vergangenheit können wir nicht mehr ändern. Was die regionale Identität betrifft, so sehe ich es als eine Art normale Heimatverbundenheit an, die es in einer anders ausgeprägten Form sicher auch in Schwaben oder Bayern gibt. Doch ostdeutsch zu sein, sollte keinen Makel haben, dass man das Gefühl hat, abgehängt zu sein. Wichtig ist es, dass es für alle Menschen in Deutschland gleiche Bildungs- und Aufstiegschancen gibt, die nicht davon abhängig sind, wo man geboren wurde oder wieviel Geld die Eltern auf dem Konto haben. Deswegen muss man meines Erachtens den Focus auf die Chancengleichheit legen und damit den Menschen Perspektiven für Ihr Leben ermöglichen.