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Anette Hübinger
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Frage von Andreas R. •

Frage an Anette Hübinger von Andreas R. bezüglich Wissenschaft, Forschung und Technologie

Sehr geehrte Frau Hübinger,

während der Großteil der deutschen Bevölkerung gleiche Werte wie Bildung, Moral, Sprache etc. teilt, gibt es einen wachsenden Teil der Bevölkerung, der in den vergangenen Monaten als "abgehängtes Präkariat" Schlagzeilen machte. Hier hat die Allgemeinheit eine Fürsorgepflicht -- gerade für die Kinder, die keine Grundwerte vermittelt bekommen.

Ländervergleiche, etwa Pisa, mit Finnland und Schweden haben gezeigt, dass die Gesamtschule hilft, dass dieser Prozentsatz "Abgehängter" in die Gesellschaft finden kann. Was die Eltern nicht leisten können, leisten dann die Mitschüler. Es gilt: "Die Mischung der Klasse macht´s!" Wieso setzt sich ihre Partei so vehement gegen die Gesamtschule ein, die auf Dauer eine Integration der "Abgehängten" fördern würde?

Lehrer, die reinen Hauptschulklassen gegenüberstehen, können das Voneinander-lernen nicht im Ansatz ersetzen, gerade bei 30er-Klassengrößen. Es fehlen hier gutgebildete Mitschüler in der Klasse!

Hier in Berlin grenzt das Problemviertel Gesundbrunnen an das Akademikerviertel Prenzlauer Berg. Während man im einen Viertel allenfalls davon träumt, Superstar bei Dieter Bohlen zu werden, lernt man im anderen schon im Vorschulalter drei Fremdsprachen. Eine Mischung der Bezirke findet jedoch nicht statt. Dort wo die Mischung schlecht ist, sind gutsituierte Eltern gezwungen, sich mit Privatschulbildung vom "Fehl"system freizukaufen. Übrig bleibt das Präkariat. Eine Freundin musste von Kreuzberg nun nach Mitte ziehen, weil das Kind in das schulpflichtige Alter kam -- Flucht vor Horrorschulen!

Und: wieso belohnt die Regierung mit dem "Betreuungs"geld auch noch die zur "Betreuung" unfähigen Eltern dafür, dass sie ihre Kinder vom Lernen von gebildeten Gleichaltrigen im Kindergarten abschirmen? Die Unsummen, auch für die Kindergelderhöhung, hätte man viel besser in die Schaffung von Kindergartenplätze gesteckt. Wir brauchen doch endlich die Kindergartenpflicht!

Mit freundlichen Grüßen
Andreas Reichhardt

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Antwort von
CDU

Sehr geehrter Herr Reichhardt,

ich teile Ihre Besorgnis, was die abgehängten Schülerinnen und Schüler an vielen Schulen anbelangt. Wie bei so vielen anderen gesellschaftlichen Themen, ist aber auch in dieser Frage eine differenzierte Betrachtungsweise notwendig. Verallgemeinerung hilft uns nicht weiter.

So halte ich die Gesamtschule für keine Patentlösung, die alle Probleme in den Bundesländern lösen würde. Die Einwohnerstruktur in unseren Bundesländern ist dafür einfach viel zu unterschiedlich. So funktionieren beispielsweise in Thüringen und Sachsen - beides Länder mit einem relativ geringen Migrantenanteil an der Landesbevölkerung - gegliederte Schulsysteme sehr gut. In Berlin herrscht eine andere gesellschaftliche Situation und deshalb macht dort ein anderes Schulsystem durchaus Sinn. Auch wenn der Bildungsföderalismus hin und wieder in der Kritik steht, für die unterschiedlichen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und den damit verbundenen Herausforderungen in den Bundesländern, brauchen wir unterschiedliche bildungspolitische Lösungskonzepte.

Sie vertreten den Standpunkt, dass eine Zusammenlegung der Schulformen maßgeblich zu einer Förderung der Kinder aus unterprivilegierten Verhältnissen beiträgt. Dem kann ich so grundsätzlich nicht zustimmen. Studien, frühere und neuere, belegen, dass eine pauschal gleiche Behandlung unterschiedlicher Kinder mit unterschiedlichen Leistungsniveaus keine Lösung darstellt: Die Divergenzen zwischen unterschiedlich leistungsstarken Schülern können nicht gemindert werden, indem sie zusammen unterrichtet werden.

Das viel zitierte Beispiel Finnland - wie auch Schweden - sollte mit großer Vorsicht herangezogen werden. Die Einwohnerzahl Finnlands ist beispielsweise mit der von Berlin und seinem Umland zu vergleichen und nicht mit unserer ganzen Bundesrepublik. Passender Weise sollten eher Berlin und/oder Sachsen mit Finnland verglichen werden. In diesem Dreiervergleich wird schnell deutlich, dass es keine „perfekte“ Schulform für alle Bundesländer geben wird. So liegt der Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund in Berlin im zweistelligen Bereich wohingegen der Prozentsatz in Sachsen oder Finnland im niedrigen einstelligen Bereich zu suchen ist. Einbezogen sind dabei noch nicht die Zusammensetzung dieses Bevölkerungsanteils und die damit verbundenen Herausforderungen.

Ich finde, dass die Qualität des finnischen Systems nicht primär an der Schulstruktur festzumachen ist, sondern eher an der Betreuungsrelation in den Klassen und an der Qualität des pädagogischen Personals. Daran müssen wir ansetzen, denn eine bestimmte Schulstruktur beinhaltet nicht per se guten Unterricht. Vielmehr ist es die Aus- und Weiterbildung von Lehrkräften und anderem pädagogischem Personal, die dazu beträgt, Kinder bestmöglich zu fördern. Familien müssen sich darauf verlassen können, dass ihrem Kind die schulische Handreichung zukommt, der es individuell bedarf. Dies kann sowohl in einem gegliederten Schulsystem wie auch in Form einer Gesamtschule geschehen.

Interessant dazu auch nachzulesen in der FAZ vom 21.01.2010:

/„Mythos 3: Nur die gemeinsame Beschulung über die vierte Jahrgangsstufe
hinaus garantiert maximale Chancengerechtigkeit im Bildungsgang./

/"Nichts ist ungerechter als die gleiche Behandlung Ungleicher", hat der amerikanische Psychologe Paul F. Brandwein gesagt. Das hängt mit unterschiedlichen Lernfähigkeiten der Schüler zusammen. Die Annahme, dass in begabungs- und leistungsheterogenen Schulklassen eine Divergenzminderung bei gleichzeitiger Schulleistungsförderung aller möglich sei, wurde bereits von den Bildungsforschern Treiber und Weinert (1982 und 1985) bei Hauptschülern und von Baumert (1986) bei Gymnasiasten widerlegt. Neuere Untersuchungen wie die Hamburger Lernausgangslagen-Studien (LAU), die Berliner Element-Studie oder die hessische LifE-Studie bestätigen die früheren Befunde./

/Der österreichisch-deutsche Bildungsforscher Helmut Fend, ein gewiss unvoreingenommener Zeitzeuge der Gesamtschule, zieht nach 17 Jahren Langzeitstudie (LifE) folgende Schlussfolgerung: "Selten hat mich das Ergebnis meiner Forschungen so überrascht und enttäuscht wie diesmal: Die Gesamtschule schafft unterm Strich nicht mehr Bildungsgerechtigkeit als die Schulen des gegliederten Schulsystems entgegen ihrem Anspruch und entgegen der Hoffnungen vieler Schulreformer, denen ich mich verbunden fühle. Die soziale Herkunft, so die bittere Erkenntnis der neuen Studie, entscheidet hierzulande noch langfristiger über den Bildungserfolg der Kinder als bislang angenommen." Die Beweislast immer wieder behaupteter Sozialisationsvorteile von Gesamtschulen gegenüber dem gegliederten (Sekundar-)Schulsystem liegt somit bis auf weiteres bei den Advokaten der Gesamtschule. So lange sollte man nicht leichtfertig die in vielen Feldstudien wissenschaftlich kontrollierten Erfahrungen negieren nach dem Motto "Es kann nicht sein, was nicht sein darf", was letztlich stets zu Lasten der betroffenen Jugendlichen geht./

/Dass die Forderung eines systematischen, kumulativen Wissensaufbaus, das auf dem sogenannten Matthäuseffekt "Wer hat, dem wird gegeben" gründet, schon im Grundschulalter nicht ohne Folgen für die individuellen Bildungschancen vernachlässigt werden darf, belegen die jüngsten Ergebnisse der Internationalen Grundschul-Lese-Untersuchung (Iglu). So äußerte sich der wissenschaftliche Leiter der Iglu-Studie, der Dortmunder Bildungsforscher Bos, in einem Interview zu den jüngsten Iglu-Befunden: ". . . Wie sich bisher gezeigt hat, ist der Einfluss des Elternstatus auf den Bildungserfolg der Kinder nirgendwo so groß wie in Berlin, Rumänien und Hamburg - und am geringsten in Bayern." Daraufhin fragte der Interviewer: "Ausgerechnet da, wo es am meisten Hauptschüler gibt?" Bos bejahte das und sagte: "Man denkt zwar, es müsste anders sein, aber man kann die Daten nicht ignorieren. Warum Bayern das besser hinbekommt, weiß ich auch nicht."/

/Liegt es vielleicht nicht schlicht an der Erziehungskultur im Elternhaus und den inzwischen sehr unterschiedlichen, länderspezifischen Lernanforderungen im Grundschulunterricht? "Wo Kindheit Glück ist, ist sie es durch Anspruch, nicht durch everything goes", hat der Erziehungswissenschaftler Hartmut von Hentig gesagt. Es gibt eben Einsichten, die auch im 21. Jahrhundert nicht ohne nachteilige Folgen für die familiäre und schulische Sozialisation missachtet werden können. Jedenfalls spricht die seit Jahrzehnten bekannte Faktenlage bis in die jüngste Gegenwart für eine frühzeitige Differenzierung der Bildungswege im Sekundarschulbereich und gegen gemeinsames Lernen nach der vierten Grundschulklasse, sofern eine optimale Begabungs- und Leistungsentwicklung aller Schüler beabsichtigt ist./

/Ein solches Plädoyer widerspricht nicht dem Postulat der Chancengerechtigkeit im Bildungsgang, die durch schulisch differenzierte Lernangebote am ehesten garantiert werden kann. Die immer wieder aufgewärmte Behauptung, wonach in begabungs- und leistungsheterogenen Lerngruppen und Einheitsschulen eine Minderung der Leistungsunterschiede bei gleichzeitiger Verbesserung der Leistungsförderung aller möglich sei, ist eindeutig empirisch widerlegt. Auch die Hoffnung, dass mit längeren gemeinsamen Lernphasen die soziale Gerechtigkeit und die Entwicklungschancen sogenannter bildungsferner Bevölkerungsgruppen langfristig verbessert werden können, hat sich als bedauerlicher Irrtum herausgestellt. Unter dieser Perspektive müssen die jüngsten bildungspolitischen Überlegungen oder Entscheidungen für eine Verlängerung der vierjährigen Grundschule als unsinnig eingeschätzt werden. Nach dem wissenschaftlichen Erkenntnisstand sind hiervon mehr Nach- als Vorteile gerade auch für die schwächeren Schüler (Gefahr der Anhäufung von Wissensdefiziten in heterogenen Lerngruppen) zu erwarten. Nachteile ergeben sich vor allem aber für die begabteren Schüler. Außer ignoranten Ideologen nützt dies niemandem, am wenigsten den heutigen Schülern. Nicht nivellierende Einheitsschulen, sondern ausreichend differenzierte Lernangebote und Schullaufbahnen werden den unterschiedlichen Lernbedürfnissen der Sekundarstufenschüler gerecht. Der Autor ist emeritierter Professor des Department Psychologie und Direktor des Zentrums für Begabungsforschung der Ludwig-Maximilians-Universität in München.“/ /(Quelle: Ideologische Irrtümer und Fakten um die Grundschule, Frankfurter Allgemeine vom 21.01.2010)/

Mit freundlichen Grüßen

Anette Hübinger, MdB