Frage an Andrea Wicklein von Gunter F. bezüglich Arbeit und Beschäftigung
Sehr geehrte Frau Wicklein,
den Medien zufolge herrscht ein Fachkräftemangel. Wenn ich aber jeden Morgen an der Bundesanstalt für Arbeit im Potsdamer Horstweg mit der Tram vorbei fahre kann ich mich des Eindruckes nicht erwehren, dass eher die Arbeitslosenzahlen steigen?
Wenn ich Meldungen wie über das Ende der Solarfabriken in Frankfurt/O., möglichen Entlassungen bei Walter Services oder gar bei Vattenfall im Falle des Endes der Braunkohleförderung lese, wird dieser Eindruck bekräftigt.
Was muss eine zukünftige Bundesregierung tun um diese offenbare Schieflage zu beseitigen?
Mit freundlichen Grüßen
Gunter Flügel
Sehr geehrter Herr Flügel,
Die Fachkräftesicherung ist eine der zentralen wirtschaftlichen und sozialen Fragen in den kommenden Jahren. Die bereits jetzt spürbaren Auswirkungen des demografischen Wandels auf die Personalplanung und -entwicklung werden sich in den nächsten Jahren auch bei gesteigerter Produktivität weiter verstärken. Die Zahl der Schulabgänger geht demografisch bedingt zurück. Hinzu kommt, dass in Deutschland allein im vergangenen Jahr über 50.000 Jugendliche die Schule ohne Abschluss verlassen haben. Von denjenigen mit Schulabschluss entscheiden sich zudem immer mehr junge Menschen für ein Studium und damit gegen eine Berufsausbildung. Insbesondere kleine und mittlere Unternehmen, sogenannte KMU, stehen in einer besonderen Konkurrenzsituation mit großen Unternehmen. Das bestehende Fachkräftepotenzial in Deutschland wird bislang nicht annähernd ausgeschöpft. Nach Berechnungen der Bundesagentur für Arbeit konnten bis 2025 zusätzlich bis zu 5,2 Millionen Fachkräfte im Inland gewonnen werden. Eine gute Schul- und Berufsausbildung ist die wichtigste Grundlage für einen erfolgreichen Einstieg ins Erwerbsleben. Das duale System der Berufsbildung hat seine arbeitsmarktintegrierende Funktion immer wieder unter Beweis gestellt. Ein wesentlicher Faktor für die im internationalen Vergleich geringe Jugendarbeitslosigkeit liegt im System der dualen Ausbildung. Zur Fachkräftesicherung bedarf es vor allem einer höheren Frauenerwerbstätigkeit in Deutschland. Zwar gingen 2010 rund 70 Prozent der erwerbsfähigen Frauen einer Arbeit nach, allerdings die Hälfte davon ausschließlich in Teilzeit. Die mittelständischen Unternehmen haben schon heute eine deutlich bessere Quote an weiblichen Führungskräften als beispielsweise DAX-Konzerne: Fast jede fünfte Führungskraft im Mittelstand ist weiblich. Diese Quote ist erfreulich, muss jedoch auch im Interesse der Betriebe noch gesteigert werden.
Ohne Zuwanderung wird die Wirtschaft ärmer: Ausländische Fachkräfte werden in Deutschland gebraucht. Mit dem Gesetz zur Verbesserung der Feststellung und Anerkennung im Ausland erworbener Berufsqualifikationen (BQFG) ist ein erster, wenn auch nicht ausreichender Schritt in die richtige Richtung unternommen worden. Dagegen scheint sich die sogenannte „Blue Card“ nicht zu bewähren. Laut einer Studie der OECD liegt die Zuwanderung von Fachkräften deutlich unter dem Niveau vergleichbarer europäischer Nachbarn. Ein Grund ist demnach auch das als restriktiv wahrgenommene Einwanderungssystem Deutschlands. Ein zentraler Baustein zur Fachkräftesicherung ist die Beschäftigung Älterer. Viele Unternehmen haben die Potenziale älterer Beschäftigter längst erkannt und eigene Initiativen gestartet, um diese noch stärker zu erschließen. Weiterbildung und Qualifizierung bleiben Voraussetzung für die Berufstätigkeit älterer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.
Klar ist auch, dass Unternehmen weiterhin ihren Beitrag leisten müssen: Die Weiterbildungs- und Qualifizierungskultur in Deutschland ist unterentwickelt. Der Bildungsbericht 2012 der Bundesregierung stellt fest, dass deutsche Unternehmen deutlich weniger in Weiterbildungskurse investieren als andere Unternehmen im europäischen Vergleich. Es passt nicht zusammen, dass einerseits zu Recht der Mangel von qualifizierten Mitarbeitern beklagt und andererseits nicht in die Weiterbildung bzw. Qualifizierung investiert wird. Im Grundsatz ist es wirtschaftlicher, bereits eingestellte Mitarbeiter zu fördern statt unter erschwerten Bedingungen nach neuen zu suchen. Mittelstand und Handwerk brauchen bei der Sicherung ihrer Fachkräftebasis besondere Unterstützung.
Die Vereinbarkeit von Beruf und Familie muss verbessert und ausgebaut werden. Der Bereich „Weiterbildung“ sollte zu einer das Bildungssystem insgesamt ergänzenden Säule erweitert und eine berufliche Weiterentwicklung gesichert werden. Um einem Fachkräftemangel effektiv entgegenwirken zu können, bedarf es größerer Durchlässigkeit im Bildungssystem. Für die SPD ist die duale Ausbildung unerlässlich. Sie sollte auch als Bezugsrahmen für die Weiterbildung dienen. Ausländischen Fachkräften muss der Anfang in Deutschland erleichtert werden, dazu gehört eine wirkliche Willkommenskultur.
Folgende Maßnahmen stehen für uns zur Erreichung dieser Ziele im Vordergrund:
- Wir werden die Arbeitslosenversicherung zu einer Arbeitsversicherung weiterentwickeln. Durch berufsbegleitende Beratung und Weiterqualifizierung werden so die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auch im Interesse der Unternehmen vorsorgend abgesichert.
- Um die Bildungsqualität auch bei der schulischen Bildung und Ausbildung zu verbessern, brauchen wir eine stärkere Zusammenarbeit von Bund und Ländern. Deshalb wollen wir das Kooperationsverbot von Bund und Ländern aufheben. Wir werden daher einen Rechtsanspruch auf das Nachholen eines Schulabschlusses und auf einen Ausbildungsplatz einführen.
- Für eine höhere Frauenerwerbstätigkeit ist eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie unabdingbar. Das Betreuungsgeld wirkt wie eine Fernhalteprämie vom Arbeitsmarkt und muss zurückgenommen werden. Wir wollen das Geld stattdessen in den Ausbau weiterer Kinderbetreuungsplatze investieren.
- Bei der Verbesserung von Transparenz und Vergleichbarkeit der Berufsabschlüsse auf europäischer Ebene müssen deutsche Standards gewahrt werden. Dies gilt insbesondere für Abschlüsse der beruflichen Aufstiegsfortbildung in Handwerk (z. B. Meisterbrief), Industrie und Handel.
- Wir setzen uns auch auf EU-Ebene ohne Wenn und Aber für den Erhalt, die Zertifizierung und die mit schulischen Abschlüssen gleichwertige Anerkennung der dualen Ausbildung ein. Insbesondere die EU-Berufsqualifikationsrichtlinie werden wir unter diesem Gesichtspunkt weiterhin kritisch begleiten.
- Bei europäischen Zertifizierungsverfahren ist das Ausbildungsniveau in der deutschen Berufsbildung als Orientierung einzubeziehen.
- Zur Sicherung der Fachkräftebasis von KMU werden wir Ausbildungsverbünde, Weiterbildungsnetzwerke und überbetriebliche Beratungsstellen stärken und damit eine langfristige Personalentwicklung unterstützen.
- Wir brauchen mehr Flexibilität in den Arbeitszeiten, um den individuellen Lebensentwürfen gerecht zu werden. Dazu gehört auch das Thema „Pflege durch Familienmitglieder“. Die spezifischen Probleme kleiner Betriebe werden wir berücksichtigen.
- In Zusammenarbeit mit den Ländern ist ein „Lotsendienst“ für ausländische Fachkräfte zu erarbeiten. In einem ersten Schritt werden die wichtigsten Formulare in englischer Sprache zur Verfügung gestellt. Darüber hinaus erfolgt die Betreuung aus einer Hand, egal ob bei Wohnsitzanmeldung, Suche von Wohnung oder eines Schul- oder Kindergartenplatzes.
- Das Anerkennungsgesetz des Bundes für ausländische Fachkräfte muss verbessert werden. Notwendig sind dabei vor allem die Einführung eines Beratungsanspruches sowie eine Neugestaltung der Gebühren nach sozialen Aspekten. Zudem muss u. a. ein angemessenes Förderangebot für erforderliche Maßnahmen zur Nachqualifizierung sichergestellt werden.
- Deutschland braucht einen „Deutschen Rat für Fachkräftesicherung“, in dem sich Wirtschaft, Gewerkschaften und Politik gemeinsam auf konkrete Maßnahmen und Verantwortlichkeiten verständigen. Dieser soll beim Kanzleramt angesiedelt werden.
Dies sind die konkreten Positionen der SPD, wie dem Fachkräftemangel effektiv entgegengewirkt werden kann.
Ich hoffe, Ihnen damit weitergeholfen zu haben.
Mit freundlichen Grüßen
Andrea Wicklein