Wie stehen Sie zum Thema kultureller Aneignung?
Ist kulturelle Aneignung nur bei strukturell benachteiligten Gruppen möglich? Somit würde ein Chinese, der auf dem Oktoberfest eine Lederhose trägt, keine kulturelle Aneignung betreiben, weil die Bayern keine strukturell benachteiligte Gruppe darstellt. Eine türkische Person, die ein vietnamesisches Restaurant eröffnet, würde wiederrum kulturelle Aneignung betreiben. Teilweise wird diese Ansicht vertreten, siehe hier: https://www.youtube.com/watch?v=rfRB6AFiBi8&t=918s
Sehr geehrte Frau K.,
vielen Dank für Ihre interessante Frage.
Das Thema kulturelle Aneignung ist tatsächlich gar nicht mal so unkompliziert. Die Grenze, wo kulturelle Aneignung anfängt und aufhört ist nicht in jedem Fall immer eindeutig oder offensichtlich.
Mein Standpunkt zum Thema kulturelle Aneignung ist der Folgende: Ich finde, es gibt zahlreiche Situationen, in denen Menschen aus marginalisierten/benachteiligten Gruppen berechtiger- und nachvollziehbarerweise Menschen aus der Dominanzgesellschaft kulturelle Aneignung vorwerfen. Dazu habe ich mich z.B. in diesem Interview geäußert, als es um die Frage ging, ob weiße Menschen Dreadlocks tragen dürfen: https://www.zeit.de/2020/43/diskriminierung-schule-rassismus-fluechtlinge-aminata-toure/seite-3
Kulturelle Aneignung ist ein reales Problem. Wenn zum Beispiel Schwarze Frauen seit Jahrhunderten für ihre Frisuren diskriminiert werden, eine Frau, die nicht Schwarz ist, dann aber für die selben Frisuren zelebriert wird und eine Frisur sogar nach ihr benannt wird (siehe Beispiel aus dem Interview), dann läuft etwas nicht richtig. Dann hat das Ganze eine Rassismuskomponente.
Rassismus ist ein strukturelles Problem, das das Ergebnis hat, dass bestimmte Gruppen (Schwarze Menschen und People of Color) strukturell benachteiligt werden. Rassismus gegen weiße Menschen gibt es nicht. Dieser Logik folgend, gibt es auch keine kulturelle Aneignung gegenüber Dominanzgruppen.
Mit freundlichen Grüßen,
Aminata Touré