Baerbock-Debatte: Weitere Abgeordnete verstießen gegen Transparenzvorschriften des Bundestags

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Berlin/Hamburg, 20. Mai 2021 - In der Diskussion um die verspätet gemeldeten Nebeneinkünfte der Grünen-Politikerin Annalena Baerbock werden weitere Fälle von Pflichtverstößen durch Abgeordnete bekannt. Wie die Transparenz-Organisation abgeordnetenwatch.de und ZEIT ONLINE an diesem Donnerstag berichten, haben zahlreiche Abgeordnete ihre Tätigkeiten für Lobbyorganisationen nicht beim Bundestag gemeldet. „Es braucht endlich abschreckende Sanktionen”, fordert Léa Briand, Sprecherin von abgeordnetenwatch.de.

Den Recherchen zufolge gaben Abgeordnete unter anderem nicht an, dass sie sich in milliardenschweren Lobbyvereinen und wirtschaftsnahen Denkfabriken engagieren. Nach den Verhaltensregeln müssen sie dies innerhalb von drei Monaten auf ihrer Bundestagsseite kenntlich machen. Die Offenlegungspflicht gilt auch für unvergütete Nebentätigkeiten.

  • Der frühere Verkehrsminister Peter Ramsauer (CSU), FDP-Fraktionsvize Michael Theurer und der CDU-Abgeordnete Thomas Jarzombek machten ihre Tätigkeit im Beirat der „Initiative Deutsche Infrastruktur” nicht transparent. In der Lobbyorganisation haben sich „Versicherungen, Versorgungswerke und Pensionskassen” mit einem Anlagevermögen von über 200 Milliarden Euro zusammengeschlossen, Mitgliedern verspricht die Initiative auf ihrer Internetseite „Zugang zu Netzwerken in Politik und Wirtschaft”. Während Theurer und Jarzombek ihre Tätigkeiten auf Anfrage nachmeldeten, tat Ramsauer dies bis heute nicht. Im Gegensatz zur Bundestagsverwaltung, die für die Prüfung von Verstößen zuständig ist, sieht der Ex-Minister für diesen Posten keine Veröffentlichungspflicht.
  • Der Grünen-Abgeordnete Cem Özdemir hatte seinen ehrenamtlichen Vorstandsposten in der „Gesellschaft zum Studium strukturpolitischer Fragen” bis zur Anfrage von abgeordnetenwatch.de und ZEIT ONLINE nicht veröffentlicht. Die Lobbyorganisation bringt Wirtschaftsverbände und Unternehmen mit hochrangigen Politiker:innen zusammen, Mitglieder sind Konzerne wie BASF, Bayer sowie Lobbyverbände der Banken- und Tabakwirtschaft. Auch die CSU-Abgeordneten Stefan Müller und Reinhard Brandl machten ihre Tätigkeit im Vorstand der Strukturgesellschaft bzw. im Beirat für Sicherheit und Verteidigung erst verspätet transparent.
  • Ähnlich reagierte Achim Post von der SPD, der im Vorstand des Nah- und Mittelost-Vereins mithilft, Geschäftsanbahnungen von deutschen Unternehmen im Nahen Osten zu fördern.
  • Der CDU-Abgeordnete Ingo Gädechens zeigte seine Mitarbeit im Präsidium des von der Rüstungsindustrie dominierten Vereins „Deutsche Gesellschaft für Wehrtechnik” erst nach einer Anfrage an. Bei dem SPD-Abgeordneten Karl-Heinz Brunner ist der Präsidiumsposten noch immer nicht unter den veröffentlichungspflichtigen Angaben auf der Bundestagsseite zu finden. Bereits in der Vergangenheit hatten Abgeordnete von SPD und FDP ihre Tätigkeit für den Lobbyverein nicht kenntlich gemacht.
  • Auf der Bundestagsseite von Olav Gutting (CDU) war nicht ersichtlich, dass er sich im Beirat der Lobbyorganisation „Bundesverband mittelständische Wirtschaft” sowie im Vorstand des Deutsch-Georgischen Forums engagiert. Gutting meldete beides nach. In dem deutsch-georgischen Freundschaftsverein sind auch andere Bundestagsabgeordnete wie beispielsweise Josef Rief (CDU) aktiv. Der Haushaltspolitiker und Landwirt hat das Ehrenamt bis heute nicht auf seiner Bundestagsseite angegeben, ebenso wenig wie seinen Posten als „Finanzvorstand” für die Taiwan-nahe „Weltliga für Demokratie und Freiheit”.
  • Bei dem FDP-Politiker Thomas Hacker war bis vor kurzem nicht sichtbar, dass er in den Jahren 2019 und 2020 Beratungshonorare von mindestens 34.500 Euro erhalten hatte. Abgeordnete müssen Einkünfte laut den Verhaltensregeln innerhalb von drei Monaten nach Zahlungseingang melden. Der FDP-Abgeordnete reagierte auf wiederholte Anfragen nicht.

„Die Transparenzvorschriften des Bundestags sind das Papier nicht wert, auf dem sie stehen”, kritisiert Léa Briand von abgeordnetenwatch.de. „Ein Grund für die wiederholten Pflichtverstöße ist, dass sie für Abgeordnete meist keine spürbaren Konsequenzen haben.” So war 2020 zum Beispiel bekannt geworden, dass der CSU-Bundestagsabgeordnete Max Straubinger über Jahre hinweg Nebeneinkünfte vor der Öffentlichkeit verborgen hatte. Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble machte die wiederholten Pflichtverstöße in einer Drucksache öffentlich, weitere Folgen hatte es nicht. 

Erst einmal verhängte das Bundestagspräsidium wegen eines Verstoßes gegen die Transparenzvorschriften ein Ordnungsgeld: 2019 musste die inzwischen verstorbene CDU-Abgeordnete Karin Strenz rund 20.000 Euro an den Bundestag zahlen, weil sie Einkünfte aus einer Lobbytätigkeit für Aserbaidschan verheimlicht hatte. 

„Die Überprüfung der Nebeneinkünfte muss durch eine unabhängige Kontroll-Kommission erfolgen”, verlangt Briand. „Der Bundestagspräsident ist dazu nicht in der Lage, denn er ist immer auch oberster Interessenvertreter der Abgeordneten.”

Erst kürzlich hatte die Staatengruppe gegen Korruption des Europarates (GRECO) beim Bundestag gravierende Mängel bei der Kontrolle und Durchsetzung der Regeln für Abgeordnete festgestellt. Die Maßnahmen des Parlaments, zum Beispiel Ordnungsgelder bei Verstößen gegen die Verhaltensregeln und mehr Personal in der Verwaltung, gehen den EU-Korruptionswächter:innen nicht weit genug, um eine „effektive Kontrolle und Durchsetzung der Regeln für Abgeordnete zu gewährleisten”.

Derzeit berät der Bundestag über eine inhaltliche Verschärfung der Transparenzvorschriften, durch die zum Beispiel bezahlte Lobbytätigkeiten verboten werden sollen. Keine Änderungen sind nach jetzigem Stand bei den Zuständigkeiten und Kontrollmechanismen geplant.

Weiterführende Informationen

Die gesamte Recherche von abgeordnetenwatch.de und ZEIT ONLINE mit weiteren Hintergründen finden Sie hier:

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