Undercover-Recherche "Lobbyismus-Experiment" zeigt: Abgeordnete lassen sich leicht von Lobbyist:innen einspannen

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Berlin/Hamburg, 24. Juli 2024 – Reporter:innen von abgeordnetenwatch.de und dem ZDF haben mehrere Monate lang undercover als vermeintliche Lobbyist:innen im Berliner Regierungsviertel recherchiert. Um die Arbeitsweise und Einflussmöglichkeiten von Lobbyist:innen sichtbar zu machen, gründeten sie eine fiktive Lobbyagentur und trafen Abgeordnete sowie ehemalige Politiker, die heute als Berater arbeiten. Ergebnis: Abgeordnete ließen sich für Anliegen der Lobbyist:innen einspannen – und ein Termin mit einem Minister oder einer Ministerin lässt sich kaufen.

Wie einfach haben es Lobbyist:innen im Bundestag, wie schnell erhalten sie Zugang zu Entscheidungsträger:innen? Dies wollten Journalist:innen von abgeordnetenwatch.de und dem ZDF mit einem Lobbyismus-Experiment aus erster Hand erfahren.

Das Experiment liefert erstaunliche Ergebnisse: Mehrere Bundestagsabgeordnete waren bereit, den Lobbyist:innen Gefallen zu tun. Sie stellten für sie offizielle Anfragen an die Bundesregierung, die von den Lobbyist:innen vorformuliert waren, und gaben einen unveröffentlichten Fraktionsentwurf weiter, ohne die Auftraggeber der Lobbyist:innen zu kennen. Eine Abgeordnete stellte sich als Schirmherrin für eine Lobbyveranstaltung zur Verfügung.

Außerdem führten die vermeintlichen Lobbyist:innen Gespräche mit ehemaligen Ministern und einem Staatssekretär, die heute ihre Dienste als Lobbyisten und Berater anbieten.

Léa Briand, Geschäftsführerin von abgeordnetenwatch.de: „Unser Lobbyismus-Experiment zeigt, wie distanzlos manche Abgeordnete gegenüber Lobbyist:innen sind. Vielfach haben sie deren Intention überhaupt nicht hinterfragt. Dass sich Abgeordnete so bereitwillig für Lobbyinteressen einspannen lassen und das Regierungsviertel so zum Wohlfühlbereich der Lobbyist:innen wird, hätten wir nicht für möglich gehalten. Es ist skandalös, dass ehemalige Minister gegen Bezahlung Kontakte zu Regierungsmitgliedern in Aussicht stellen. In einer Demokratie darf der Einfluss auf die Politik nicht vom Geldbeutel abhängen.“

Hintergrund zum Experiment:
Die Reporter:innen gaben sich als Lobbyist:innen aus, die sich im Auftrag eines fiktiven britischen E-Zigaretten-Herstellers mit verschiedenen Anliegen an Abgeordnete wandten.

Anfang September 2023 kontaktierten sie 27 Bundestagsabgeordnete aller Fraktionen und baten um Gesprächstermine. Sechs Abgeordnete von der SPD, der FDP, der CDU und der AfD erklärten sich zu einem Treffen bereit. Die Gespräche fanden in Abgeordnetenbüros, der Parlamentarischen Gesellschaft, einem Bundestagsrestaurant, einem Restaurant in Berlin-Mitte sowie per Videocall statt.

Bei einem Treffen erhielten die vermeintlichen Lobbyist:innen von einem CDU-Abgeordneten einen unveröffentlichten Entwurf seiner Fraktion, er richtete außerdem eine schriftliche Frage an die Bundesregierung, die er die vermeintlichen Lobbyist:innen vorformulieren ließ. Eine weitere CDU-Abgeordnete bot sich als Schirmherrin für eine Lobbyveranstaltung an. Ein AfD-Abgeordneter reichte über seine Fraktion eine Kleine Anfrage an die Bundesregierung ein, die von den vermeintlichen Lobbyist:innen vorformuliert worden war. Er und der CDU-Abgeordnete  ließen sich zudem zum Mittagessen einladen.

Um Termine mit Regierungsmitgliedern zu bekommen, kontaktierten die Reporter:innen auch mehrere Ex-Politiker, die heute als Berater und Lobbyisten arbeiten. Sie sprachen mit den ehemaligen Ministern Rudolf Scharping (SPD) und Dirk Niebel (FDP) sowie dem ehemaligen Staatssekretär Rezzo Schlauch (Grüne). Scharping sagte, ein Treffen mit dem ihm bekannten Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) könne er zwar nicht versprechen, aber mit seinem Parlamentarischen Staatssekretär werde es klappen. Schlauch erklärte, er habe Kontakte zum Gesundheitsministerium und zum Umweltministerium. Im Falle einer Beauftragung würde er sie nutzen.

Niebel empfing die vermeintlichen Lobbyist:innen zusammen mit einem Geschäftspartner im China Club, einem privaten Club unweit des Brandenburger Tors. Auch sie stellten ein Treffen mit einem Minister in Aussicht.

Im Anschluss an die Treffen schickten die Ex-Politiker bzw. ihre (Partner-)Agenturen Angebote für einen möglichen Beratungsauftrag. Die Tagessätze liegen bei allen zwischen 2.500 und 3.000 Euro.

Die drei ehemaligen Politiker erklärten auf Anfrage, sie würden sich jederzeit an alle gesetzlichen Vorgaben halten. Rezzo Schlauch ließ über eine Anwaltskanzlei mitteilen, dass das Angebot ausschließlich allgemein zugängliche Recherchearbeit umfasse (Desk-Research). Erst in einem hiervon “getrennt verlaufenden künftigen eventuellen zweiten Schritt” habe die Agentur angeboten, mit den für E-Zigaretten zuständigen Vertretern der Bundesregierung in Kontakt zu treten.

Die Recherche zeigt, wie leicht Lobbyist:innen Zugang zu Politiker:innen bis hin zu Kabinettsmitgliedern bekommen und wie distanzlos die Beziehung zwischen manchen Abgeordneten und Interessenvertreter:innen ist. Abgeordnete ließen sich für Lobbyanliegen einspannen, ohne den Kunden der vermeintlichen Lobbyist:innen zu kennen.

Léa Briand: „Die Öffentlichkeit hat ein Anrecht zu erfahren, wer die Abgeordneten beeinflusst. Deswegen brauchen wir strengere Gesetze: Alle Kontakte zwischen Lobbyist:innen und der Politik müssen endlich transparent werden!“


Ausführliche Informationen: