Als die Abgeordneten kürzlich die Geldleistungen für die Fraktionen um 30 Prozent anhoben, ging dies weitgehend geräuschlos vonstatten. Über 115 Mio. Euro stehen Union, SPD, AfD, FDP, Linke und Grünen in diesem Jahr zur Verfügung – man empfand dies als durchaus angemessen.
Es ist allerdings nicht so, dass die Fraktionen zuletzt knapp bei Kasse gewesen wären. Die Union etwa schloss das Jahr 2017 mit einem Überschuss von knapp 2,6 Mio. Euro ab, bei der SPD waren es immerhin rund 250.000 Euro. Allein die beiden Regierungsfraktionen haben inzwischen mehr als 30 Mio Euro an Rücklagen angehäuft, wie die gerade vom Bundestagspräsidenten veröffentlichten Fraktionsbilanzen zeigen.
3,6 Mio. Euro extra
Die aktuellen Rechenschaftsberichte der Fraktionen weisen jedoch nicht nur staatliche Überschüsse aus, sondern auch äußerst fragwürdige Ausgaben in Millionenhöhe. Diese verbergen sich hinter einem auf den ersten Blick recht unscheinbaren Posten: Mehr als 3,6 Mio. Euro zahlten die Fraktionen vergangenes Jahr für „Leistungen an Fraktionsmitglieder für die Wahrnehmung besonderer Funktionen“ – Extra-Zahlungen an Abgeordnete, die einen Fraktionsposten innehaben. In den allermeisten Fällen dürften diese Boni verfassungswidrig sein.
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Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat bereits deutliche Worte zu den Fraktionszulagen, die auch in den meisten Landtagen gezahlt werden, gefunden. Diese verstießen „gegen die Freiheit des Mandats und den Grundsatz der Gleichbehandlung der Abgeordneten“, urteilten die obersten Verfassungsrichter im Juli 2000 (2 BvH 3/91). Konkret die Bonuszahlungen für stellvertretende Fraktionsvorsitzende, für parlamentarische Geschäftsführer, Ausschussvorsitzende, Obleute und fachpolitische Sprecher seien „mit dem Verfassungsrecht unvereinbar“. "Innerparlamentarische Einkommenshierarchien lassen es erstrebenswert erscheinen, parlamentarische Funktionen aus ökonomischen Gründen, unabhängig von individuellen politischen Intentionen und Kompetenzen, zu übernehmen, auszuüben und gegenüber Konkurrenten zu behaupten," so die Richter.
Weil das damalige Urteil den Landtag Thüringen betraf, wird es von den Fraktionen im Bundestag so ausgelegt, als sei es auf die Bundesebene nicht anwendbar. Das allerdings ist unzutreffend. Denn das Bundesverfassungsgericht hat in späteren Entscheidungen – u.a. im Jahr 2007 – klar gestellt, dass es mit dem Thüringen-Urteil "allgemeine Maßstäbe" aufgestellt hat, die für alle Parlamente auf allen Ebenen gelten (2 BvK 1/03).
Rechtlich unproblematisch sind nur zwei Ausnahmefälle
85 Parlamentarier kassierten nach Recherchen des ARD-Politmagazins Report Mainz im Jahr 2015 eine rechtlich zweifelhafte Zahlung aus der Fraktionskasse. Aktuellere Zahlen fehlen, eine Veröffentlichungspflicht für die Bonusleistungen existiert nicht.
"Volksvertreter de luxe": Beitrag des ARD-Politmagazins Report Mainz zu Funktionszulagen (7. März 2017)
Rechtlich unproblematisch sind Funktionszulagen nur in zwei Ausnahmefällen: Dass Fraktionsvorsitzende und Parlamentarische Geschäftsführer eine Vergütung von der Fraktion erhalten, haben Bundesverfassungsgericht und das Landesverfassungsgericht Schleswig-Holstein aufgrund der herausgehobenen Stellung als rechtmäßig erkannt.
Die meisten Fraktionen setzen sich über die Maßgaben aus Karlsruhe jedoch großzügig hinweg und zahlen die Zulagen an sehr viel mehr als die erlaubten Funktionsträger, wie eine abgeordnetenwatch.de-Umfrage zeigt.
- Bei der Union profitieren nach Angaben eines Unions-Sprechers nicht nur der Fraktionsvorsitzende und der 1. Parlamentarische Geschäftsführer von den Zusatzzahlungen, sondern außerdem die stellvertretenen Fraktionschefs, alle weiteren Parlamentarischen Geschäftsführer, Justiziare, Vorsitzende der Arbeitsgruppen und soziologischen Gruppen sowie die Sprecher der CDU-Landesgruppen. Die gezahlten Funktionszulagen seien ein "legitimierter und verfassungsgemäßer Ausgleich für den höheren Zeitaufwand, den Zuwachs an Pflichten und eine gesteigerte politische Verantwortung in der Fraktion.“ Dass die Zahlungen verfassungsgemäß sind, darf angesichts der Rechtsprechung bezweifelt werden. Insgesamt gab die CDU/CSU-Fraktion vergangenes Jahr 1,75 Mio. Euro für Funktionszulagen aus.
- Die SPD zahlte 2017 an ihre Abgeordneten 1,32 Mio. Euro an Funktionszulagen. Die hohe Summe spricht dafür, dass es bei den Sozialdemokraten nicht nur die rechtlich unproblematischen Zusatzzahlungen für den Fraktionsvorsitz und die Fraktionsgeschäftsführung gab, sondern noch für sehr viel mehr Posten. Auf zweimalige Anfrage von abgeordnetenwatch.de blieb Fraktionsgeschäftsführer Carsten Schneider zunächst eine Antwort schuldig.
- Als einzige Bundestagsfraktion zahlte die AfD laut Rechenschaftsbericht von 2017 keine Funktionszulagen. Dass bei bei der AfD in den ersten beiden Monaten nach Parlamentseintritt noch keine entsprechenden Ausgaben anfielen bedeutet nicht zwangsläufig, dass sie die Zusatzzahlungen grundsätzlich ablehnt. Eine abgeordnetenwatch.de-Anfrage, wie es seine Fraktion prinzipiell mit den Boni hält, beantwortete der Parlamentarische Geschäftsführer Bernd Baumann trotz Nachfrage zunächst nicht. [Ergänzung 28.8.: Laut einer SPIEGEL-Meldung aus dem Juni sollen die beiden Fraktionsvorsitzenden Alexander Gauland und Alice Weidel Zulagen erhalten, für den übrigen Fraktionsvorstand sei eine pauschale Aufwandsentschädigung im Gespräch. - Danke für den Hinweis in den Kommentaren.]
- Auch die FDP gehörte dem Bundestag 2017 nur etwa zwei Monate an, zahlte in dieser Zeit aber 89.000 Euro an Fraktionsmitglieder aus. Für welche Posten, wollte die Fraktion auf Nachfrage nicht mitteilen – die Zahlungen erfolgten „im gesetzlich zulässigen Rahmen“, so ein Sprecher. Das allerdings darf bezweifelt werden. Folgt man der bisherigen Rechtsprechung, wären nur Zulagen an Fraktionschef Christian Lindner und den Parlamentarischen Geschäftsführer Marco Buschmann zulässig. Dass beide in den ersten beiden Monaten der Legislaturperiode beinahe 90.000 Euro an Boni erhielten, ist abwegig – von daher dürften deutlich mehr Abgeordnete ein Extra kassiert haben.
- Die Linksfraktion schüttete 2017 rund 120.000 Euro an Funktionszulagen aus. Empfänger waren laut Fraktionsgeschäftsführer Jan Korte die beiden Fraktionsvorsitzenden Sahra Wagenknecht und Dietmar Bartsch mit jeweils der Hälfte einer Abgeordnetendiät (also 4770 Euro) sowie er selbst mit einem Viertel einer monatlichen Diät (2385,50 Euro). Damit hält sich die Linksfraktion an die rechtlichen Vorgaben. Die Funktionszulagen seien grundsätzlich richtig, so der Fraktionsgeschäftsführer gegenüber abgeordnetenwatch.de. Allerdings wünsche er sich von den übrigen Fraktionen, dass auch sie ihre Zahlungen einzeln aufschlüsselten. Bei nächster Gelegenheit, so Korte, werde er dies ansprechen.
- Transparent mit ihren Funktionszulagen geht auch die Grünen-Fraktion um, die vergangenes Jahr insgesamt 333.000 Euro auszahlte. Ein Extra erhalten dort die beiden Fraktionsvorsitzenden, die erste Parlamentarische Geschäftsführerin, alle weiteren Parlamentarischen Geschäftsführer sowie die stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden – und zwar in Höhe von 50%, 37,5%, 25%, 20% einer monatlichen Diät, wie Fraktionsgeschäftsführerin Britta Haßelmann gegenüber abgeordnetenwatch.de mitteilte. Dies sei rechtlich nicht zu beanstanden, findet Haßelmann mit Blick auf das Karlsruher Urteil von 2000, da sich dieses nur auf den Thüringer Landtag bezogen habe. Allerdings blendet die Fraktionsgeschäftsführerin der Grünen aus, dass das Bundesverfassungsgericht mehrfach klargestellt hat, dass mit dem Thüringen-Urteil "allgemeine Maßstäbe" aufgestellt worden seien. Ob die Zulagen-Praxis bei den Grünen den Maßgaben des BVerfG standhalten würde, steht zu bezweifeln.
Wo kein Kläger, da kein Richter
Warum aber schütten die Fraktionen seit Jahren Millionensummen an Abgeordnete aus, obwohl dies im Widerspruch zur geltenden Rechtsprechung steht? Darauf gibt es zwei Antworten, eine politische und eine rechtliche. Die politische lautet: Mit den üppigen Boni aus der Fraktionskasse von mehreren Tausend Euro pro Monat haben sich zahlreiche Abgeordnete im Bundestag (und in den Landtagen) gut eingerichtet – eine Abschaffung ist nicht gewollt und von daher politisch auch nicht realistisch.
Die rechtliche Antwort lässt sich auf die einfach Formel „Wo kein Kläger, da auch kein Richter“ bringen. Denn gegen die unrechtmäßigen Zahlungen aus der Fraktionskasse müssten schon die Betroffenen vor das Bundesverfassungsgericht ziehen: die Fraktionen selber.
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