Hinter den Kulissen der Recherche

Wie wir eine Lobbyagentur aufbauten

Zwei vermeintliche Lobbyist:innen sollen undercover für uns herausfinden, wie Abgeordnete auf ihre Wünsche reagieren. Doch es stellen sich viele Fragen, zum Beispiel: Wie kommen sie unerkannt in den Bundestag? Und wie gründet man eine Lobbyagentur?

von Martin Reyher, Tania Röttger und Christian Fuchs, 26.07.2024
Collage aus fiktiver Lobbyagentur-Website, falschem LinkedIn-Profil und einem Foto des Schauspielers, der den Agentur-Chef spielt

Alles beginnt im November 2022 mit einer freundlichen E-Mail – Betreff: „Anfrage: ZDF Die Spur“. Man sei auf der Suche nach Themen für ein investigatives Format, schreibt die Redakteurin einer Berliner Produktionsfirma an abgeordnetenwatch.de. Ob man in den nächsten Tagen einmal telefonieren könne?

Wir haben bereits eine Idee. Schon mehrfach haben wir versucht, Fernsehschaffende für eine Undercover-Recherche zum Thema Lobbyismus zu gewinnen. Dass daraus nichts wurde, ist kein Wunder: Aufwand und Kosten einer verdeckten Recherche sind immens – bei unkalkulierbarem Risiko. Was, wenn am Ende kein geeignetes Material herauskommt? Wenn kein Protagonist anbeißt? Man auffliegt?

Wie funktioniert Lobbyismus hinter den Kulissen?

Wir beschließen, ein aufwändiges Experiment zu starten. Um herauszufinden, wie Lobbyismus hinter den Kulissen funktioniert, sollen sich zwei Personen als Lobbyist:innen ausgeben. Sie sollen sich mit Abgeordneten sowie mit ehemaligen Ministern treffen, die heute als Berater und Lobbyisten tätig sind. 

Rudolf Scharping spricht in ein Mikrofon
Einer der Gesprächspartner: Der Ex-Minister und Lobbyist Rudolf Scharping (SPD)

Im investigativen Journalismus darf verdeckt recherchiert werden, wenn es darum geht, Informationen von besonderem öffentlichen Interesse zu beschaffen, die auf andere Weise nicht zugänglich sind. So steht es im Pressekodex, der die Richtlinien für die journalistische Arbeit festlegt. Dass beides auf das Thema Lobbyismus zutrifft, lässt sich kaum bestreiten.

Scheinbar unlösbare Fragen

Schnell wird klar, dass wir ein größeres Team brauchen. Wir holen den Investigativjournalisten Christian Fuchs an Bord, mit dem wir die Idee zu dem Undercover-Experiment entwickeln. Später kommt die Journalistin Hannah Knuth dazu. Unser Kernteam besteht aus sechs Journalist:innen: je zwei von abgeordnetenwatch.de und der Produktionsfirma Florida Factual, die im Auftrag des ZDF einen Dokumentarfilm erstellen wird, sowie Fuchs und Knuth.

Für das Experiment brauchen wir eine glaubwürdige, belastbare Legende. Wir stehen vor vielen – zu diesem Zeitpunkt scheinbar unlösbaren – Fragen:

Wie erklären wir den Abgeordneten, dass sie von unseren Lobbyist:innen noch nie etwas gehört haben?

Wie bringen wir die Abgeordneten überhaupt dazu, sich mit uns zu treffen?

Wie bekommen wir die falschen Lobbyist:innen in den Bundestag?

Für all das finden wir in den nächsten rund eineinhalb Jahren eine Lösung.

Die Agentur kann nichts über sich preisgeben – weil sie gar nicht existiert

Das Problem, dass uns im Berliner Regierungsviertel niemand kennt, lösen wir folgendermaßen: Wir erklären unseren Gesprächspartner:innen, dass wir eine Lobbyagentur aus Luxemburg sind. Das hat gleich mehrere Vorteile: Wir können vorgeben, wenige Kund:innen in Deutschland zu haben und daher selten im Bundestag zu sein. Außerdem ist das Land nicht gerade für allzu viel Transparenz in der Geschäftswelt bekannt – praktisch, wenn man eine Agentur ist, die nichts über sich preisgeben will oder kann, weil sie gar nicht existiert.

Ein Tablet mit der Website der fiktiven Agentur Ianua Strategy und zwei dazu passende Visitenkarten
Website von Ianua Strategy, Visitenkarten

Es trifft sich gut, dass ein Kollege aus Luxemburg stammt. Er weiß, welches eine glaubwürdige Adresse für unsere vermeintliche Lobbyagentur ist, kann Briefkästen zur Verfügung stellen und eine luxemburgische SIM-Karte besorgen. Schließlich wollen wir telefonisch erreichbar sein, wenn Abgeordnete sich mit uns treffen wollen.

Als Name wählen wir “ianua”, zu Deutsch: “Zugang“

Ein Name für die Agentur ist schnell gefunden. Von ähnlichen Beratungsfirmen wissen wir, dass ein guter internationaler Name ein lateinischer ist. Wir wählen das Wort “ianua”, was “Zugang“ bedeutet. Die Agentur Ianua Strategy ist geboren.

Jetzt müssen wir Spuren im Internet hinterlassen, um unserer Agentur den Anschein einer realen Existenz zu geben. Wir erstellen eine Website mit nichtssagenden Stockfotos von gläsernen Bürogebäuden, dazu Profile auf dem Karrierenetzwerk Linkedin. Ein Grafiker entwirft für uns ein Firmenlogo im Neunziger-Jahre Stil.

Wir brauchen Personen mit einem besonderen Merkmal

Für die kurzen Texte, in denen vage aber vielversprechende Dienstleistungen angeboten werden, lassen wir uns wieder von ähnlichen Agentur-Webseiten inspirieren: „Our team of specialists develops tailored analysis on financial, reputational and social risks allowing us to create government relations strategies to bring your business forward.“

Eine Frage bereitet uns besonderes Kopfzerbrechen: Wie bekommen wir unsere Lobbyist:innen in den Bundestag?

Ihre Namen können wir nicht einfach erfinden. Denn um in den Bundestag zu kommen, müssten die fiktiven Lobbyist:innen ihre echten Ausweise vorzeigen. Unsere Idee: Wir brauchen Personen mit zwei Vornamen, deren zweiter Name aber öffentlich nicht bekannt ist. Mit diesem können sie mit den Abgeordneten kommunizieren. Da er offiziell auf dem Ausweis unserer Lobbyist:innen steht, wirft das bei der Einlasskontrolle zum Bundestag keine Fragen auf. Das hoffen wir zumindest.

Nicht auffindbar sein

Der zweite Vorname hat noch einen weiteren, nicht minder wichtigen Vorteil: Unsere Lobbyist:innen sind im Internet nicht auffindbar, wenn jemand nach ihnen sucht – schon gar nicht in Kombination mit einem gewöhnlichen Nachnamen.

Unsere Kollegin Hannah Knuth soll eine Mitarbeiterin der Agentur spielen. Bei den Treffen wird sie die Expertin sein, die nüchtern konkrete Fragen an die Politiker:innen stellt.

Wir brauchen aber noch einen Agenturleiter, der die Rolle des Grandseigneurs übernimmt und den Gesprächspartner:innen das Gefühl gibt, auf Chefebene zu kommunizieren.

Der geschniegelte Banker aus Bad Banks

Der Schauspieler Germain Wagner in einem Pressefoto der Serie Bad Banks
Der Schauspieler Germain Wagner spielt unseren Agenturchef (hier zu sehen in der Fernsehserie Bad Banks)

Im Frühjahr 2023 machen wir uns auf die Suche nach geeigneten Personen. Wir finden Schauspieler, die interessiert sind. Sie reizt die Herausforderung, diese ungewöhnlichen Rolle im echten Leben zu spielen. Aber keiner passt so gut zu unseren Vorstellungen von der Rolle des Lobbyisten wie Germain Wagner.

Wagner, Jahrgang 1956, nimmt man die Rolle des Chefs ab. Das beweist er auch in der ZDF-Koproduktion Bad Banks, in der er einen geschniegelten Banker spielt. Großer Pluspunkt: Wagner ist Luxemburger und wirkt mit seiner markanten Sprachfärbung besonders authentisch.

Als “Joseph Wagner”, Chef der luxemburgischen Lobbyagentur Ianua Strategy, wird er in den kommenden Monaten zusammen mit seiner Kollegin versuchen, Abgeordnete des Bundestags zu treffen.

Klischeehafte Rollenverteilung, um nicht aufzufallen

Mit dieser klischeehaften Rollenverteilung – Chef: älterer Mann, Mitarbeiterin: jüngere Frau – hoffen wir, nicht weiter aufzufallen.

In dieser Phase des Experiments holen wir uns Unterstützung von dem ehemaligen Bundestagsabgeordneten Marco Bülow. 19 Jahre lang saß er selbst im Parlament, erst für die SPD, dann als Fraktionsloser, der der Satirepartei Die Partei beigetreten war. Er weiß, wie und mit welchen Methoden Lobbyist:innen agieren. Bülow, der schon während seiner Abgeordnetenzeit als Lobbykritiker bekannt wurde, ist einer der wenigen, den wir in unsere Recherche einweihen.

Unterstützung von einem Ex-Abgeordneten

Er hilft uns zum Beispiel bei der Frage, wie wir das Interesse der Abgeordneten wecken können. Aus eigener Erfahrung weiß er, dass es Neulingen im Bundestag schmeichelt, wenn sich Lobbyist:innen für sie interessieren. Wer sich mit Unternehmensvertreter:innen austauscht und an deren “Parlamentarischen Abenden” oder Podiumsdiskussionen teilnimmt, so Bülow, der steigert auch sein Ansehen in der eigenen Fraktion.

Marco Bülow am Redepult des Deutschen Bundestags
Unterstütze die Recherche: Marco Bülow, Ex-Abgeordneter und Lobbykritiker

Wir machen uns auch viele Gedanken darüber, für welche Branche unsere Agentur lobbyieren soll. Klar ist, wir wollen Profitlobbyismus darstellen, also Interessenvertretung für die Industrie und nicht für das Gemeinwohl. Bei Lobbyskandalen geht es fast immer um finanzielle Interessen von Unternehmen, sei es im Zusammenhang mit der Mövenpick-Affäre, dem Wirecard-Skandal oder dem Engagement von Philipp Amthor für die Firma Augustus Intelligence.

Mehr als 500 Kontakte in aller Welt zusammengeklickt

Außerdem muss es sich um eine Branche handeln, die noch im Umbruch ist und in der wichtige Regulierungen anstehen – also die Hoch-Zeit für Lobbyist:innen, in der sie versuchen, Einfluss auf die Politik zu nehmen. Und es muss eine Branche sein, in der es nicht schon seit Jahrzehnten feste Strukturen, große Player und etablierte Verbände gibt, die enge Beziehungen zur Politik aufgebaut haben. So landen wir beim Thema E-Zigaretten – einer ebenso jungen wie unübersichtlichen Branche. Welche Abgeordneten kennen schon alle relevanten Akteure?

Im Sommer 2023 haben wir alles, was wir für unser Experiment brauchen: Zwei Lobbyist:innen, eine Agentur-Homepage, Visitenkarten aus weißem Karton und Profilseiten im Karrierenetzwerk Linkedin. Die über 500 Kontakte hatten wir uns über Wochen manuell in aller Welt zusammengeklickt, um den Anschein zweier gut vernetzter Lobbyist:innen zu erwecken.

Die Lobbyist:innen wünschen sich von der Politik ein millionenschweres Förderprogramm

Unsere Legende ist, dass Ianua Strategy für einen mittelständischen Hersteller von E-Zigaretten aus Großbritannien arbeitet. Dieser möchte sich in Deutschland niederlassen, also Arbeitsplätze schaffen. Dazu will er mit wichtigen Entscheidungsträger:innen sprechen und ihnen ein weiteres Anliegen vorstellen: ein millionenschweres Förderprogramm für E-Zigaretten.

Die Idee dazu haben wir der Realität entlehnt. In Großbritannien hat die dortige Regierung 2023 genau solch ein Programm aufgelegt: Eine Million Raucher:innen in England bekommen auf Kosten der Allgemeinheit ein Vape-Starter-Set geschenkt, um vom Tabak loszukommen. 45 Millionen Pfund lässt sich die Regierung die „Swap-to-stop“-Kampagne kosten. Der Verdacht liegt nahe, dass die Initiative auf die erfolgreiche Lobbyarbeit der Branche zurückzuführen ist.

Kein Geld anbieten, keine Gesetze ändern

Kartenausschnitt von Berlin mit Bundestag, parlamentarische Gesellschaft, China Club und einem Steakhaus am Potsdamer Platz
Hier trafen sich die vermeintlichen Lobbyist:innen mit Abgeordneten und einem Ex-Minister

Eines ist von Anfang an klar: Wir wollen zeigen, wie Lobbyismus funktioniert, aber nicht aktiv in den Gesetzgebungsprozess eingreifen. Wir wollen keine Gesetze ändern. Und wir wollen die Abgeordneten auch nicht zu Straftaten anstiften. Deshalb werden wir ihnen zum Beispiel auch kein Geld anbieten. Damit würden wir uns selbst strafbar machen.

Anfang September 2023: Wir schreiben 27 Abgeordnete im Namen von “Joseph Wagner” an, unserem Agenturchef, und bitten sie um ein Gespräch. Eine Gruppe der Adressat:innen ist relativ neu im Bundestag, so wie es Marco Bülow empfohlen hatte. Eine andere Gruppe sprechen wir als Fachpolitiker:innen an, die sich bereits mit dem Thema E-Zigaretten beschäftigt haben.

Werden die Abgeordneten überhaupt antworten?

Bei der Auswahl gehen wir proportional nach der Fraktionsgröße vor: Von der SPD erhalten sieben Abgeordnete eine Mail von “Joseph Wagner”, von CDU/CSU sind es sechs, von Bündnis90/Die Grünen und der FDP jeweils vier. Von der AfD schreiben wir drei und von der Linkspartei zwei Parlamentarier:innen an, dazu einen Fraktionslosen.


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Als wir die Mails verschicken, ist unsere Anspannung groß. Wir haben kein Gefühl dafür, wie glaubwürdig unsere Legende ist und wie die Abgeordneten reagieren werden. Wird überhaupt jemand antworten?

Antwort nach 39 Minuten – eine Absage zwar, aber hilfreich

Nach 39 Minuten erhalten wir die erste Antwort eines Abgeordneten – eine Absage zwar, aber immerhin eine Empfehlung, welche Fraktionskollegin wir stattdessen kontaktieren sollen. Nach 4 Stunden sind alle Zweifel verflogen: Wir haben den ersten Termin.

In den nächsten Monaten wollen sich sechs Abgeordnete mit unseren Lobbyist:innen treffen. Die Termine führen uns in Bundestagsbüros, ein Steakhaus, ein Bundestagsrestaurant und in die Parlamentarische Gesellschaft, einen Abgeordnetenclub direkt neben dem Reichstagsgebäude. (Lesen Sie hier mehr zu den Ergebnissen: Undercover im Bundestag – Das Lobbyismus-Experiment).

Mit Dirk Niebel im China Club

Fotocollage Dirk Niebel im Flugzeug und Aussenwerbung vom China Club Berlin
Kann Türen zur Regierung öffnen: Ex-Minister Dirk Niebel

Der mit Abstand aufregendste Tag der Recherche ist der 9. November. An diesem Donnerstag haben unsere Lobbyist:innen einen Termin in einer der exklusivsten Locations in der Hauptstadt, um einen prominenten Ex-Politiker zu treffen: Dirk Niebel, Minister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung a.D., hat sie in den China Club am Brandenburger Tor eingeladen. Allein die Aufnahmegebühr kostet bis zu 15.000 Euro. Was die vermeintlichen Lobbyist:innen dort erlebt haben, lesen Sie hier: Lobbyist Dirk Niebel – Kleine Schweinereien.

Grafiken: Andreas Dobrzewski
 

#LobbyismusExperiment – die Recherche:

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