Wie Olaf Scholz die Forderungen der Wirtschaft nach Brüssel trug
Bei zwei Treffen mit Top-Manager:innen sicherte Bundeskanzler Scholz der deutschen Industrie Unterstützung zu. Unterlagen zeigen, dass ihre Forderungen wenig später in einem Brief an Ursula von der Leyen landeten.
picture alliance / Geisler-Fotopress | Thomas Bartilla (Scholz), picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Virginia Mayo (von der Leyen)
Am 29. Oktober, wenige Tage vor dem Bruch der Ampel-Koalition, findet im Bundeskanzleramt ein Treffen statt, zu dem Olaf Scholz die Schwergewichte der deutschen Industrie geladen hat. Wer genau eingeladen ist, will das Kanzleramt zunächst nicht sagen – es kommt aber doch heraus: Fotografen machen vor dem Betonbau Bilder der Ankommenden, wie sie aus ihren glänzenden Limousinen steigen. Es sind Top-Manager:innen aus der Automobil-, Stahl- und Chemiewirtschaft. Auch hochrangige Funktionär:innen der Gewerkschaften sind der Einladung gefolgt.
Nach drei Stunden werden die Gäste zufrieden nach Hause fahren. Denn sie sind mit ihren Anliegen zum Kanzler durchgedrungen. Scholz wird viele ihrer Forderungen später per Brief an die Präsidentin der EU-Kommission schicken, wie ein Abgleich mit Unterlagen der Lobbyakteure zeigt.
Wilde Tage im Regierungsviertel
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Nach dem Treffen mit Olaf Scholz steigt BDI-Chef Siegfried Russwurm in seinen Dienstwagen. Seine Anliegen finden sich im Brief wieder, den der Kanzler nach Brüssel schickte.
Berlin Ende Oktober, Anfang November. Es waren wilde Tage im Regierungsviertel. Finanzminister und FDP-Chef Christian Lindner lud fast zeitgleich zu einem Gegengipfel mit Wirtschaftsvertreter:innen, die nicht von Scholz eingeladen waren. Gut eine Woche später zerbrach die Ampel-Koalition. Scholz stand ohne eigene Mehrheit da und der Wahlkampf war eröffnet.
Was konnte der Kanzler in dieser Situation noch für die Unternehmen tun?
Anfang Januar erhält die Präsidentin der EU-Kommission, Ursula von der Leyen (CDU), Post vom deutschen Bundeskanzler. Der Brief enthält eine ganze Reihe an Forderungen zur Wirtschaft, wie sie die Lobbyakteure beim Gipfel am 29. Oktober und bei einem zweiten Treffen im November bei Scholz vorgetragen haben dürften. War dieser Brief das, was Scholz noch tun konnte?
Energiepreise, E-Mobilität, Wasserstoff: Wofür sich der Kanzler in Brüssel stark machte
Die beiden Gipfel waren vertraulich. Über den Inhalt wollten einige der Teilnehmenden auf Anfrage von abgeordnetenwatch.de keine Auskunft geben. Andere schickten aber ausgearbeitete Dokumente, die sie zu den Treffen mitbrachten, oder zumindest ein paar ihrer Stichpunkte.
An vier Beispielen lässt sich zeigen, wie der Kanzler die Forderungen der Wirtschaft nach Brüssel trug.
Forderung I: Nicht zu streng mit Wasserstoff
Ein wichtiges Anliegen im Scholz-Brief ist das Thema Wasserstoff. Der Energieträger soll der Wirtschaft dabei helfen, von fossiler Energie loszukommen. Nach Auffassung des Kanzlers gibt es „zu strenge Vorgaben für grünen Wasserstoff“. Der Umstieg sollte pragmatischer und flexibler sein. „Insbesondere muss der Einsatz von Erdgas und blauem Wasserstoff möglich sein, solange grüner Wasserstoff noch nicht ausreichend vorhanden ist“, schreibt Scholz an von der Leyen. Was er meint: Es brauche eine Übergangszeit, in der fossile Energieträger sowie der mit ihrer Nutzung produzierte Wasserstoff (sogenannter „blauer Wasserstoff“) zum Einsatz kommen kann.
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Vertreter der Verbands der Chemischen Industrie kommen zum zweiten Industriegipfel von Bundeskanzler Scholz im Bundeskanzleramt.
Das war ganz im Interesse der Teilnehmer:innen der Gipfel. In seinem Programm zur Bundestagswahl schreibt der Verband der chemischen Industrie (VCI): „Die Kriterien für die Herstellung von grünem Wasserstoff sind bereits restriktiv und können Investitionen ausbremsen.“ Auch der Bundesverband der deutschen Industrie (BDI) fordert, es müsse eine „praxistaugliche Definitionen“ für Wasserstoff geben; in der Transformationsphase müsse „die Nutzung von kohlenstoffarmem - wie z. B. blauem – Wasserstoff“ möglich sein. Die Gewerkschaft IG Bergbau, Chemie, Energie (IG BCE) verlangt „langfristige Abnahmeverträge für blauen Wasserstoff, um dessen breite Anwendung in der Industrie zu fördern.“
Forderung II: Hilfen für E-Mobilität
Der E-Auto-Sparte in Deutschland geht es schlecht. Nach dem Wegfall der Umweltprämie Ende 2023 brach der Absatz um 27 Prozent ein. Seit längerem schlägt die Branche Alarm. Volkswagen möchte etwa eine politisch gelenkte „Erhöhung der Nachfrage“ nach batteriebetriebenen Fahrzeugen. Der Konzern wünscht sich „staatliche Prämien“ oder „steuerliche Anreize“, wie er im Lobbyregister schreibt.
In seinem Brief an von der Leyen kündigt Scholz genau das an: Deutschland plane, Kaufanreize einzuführen, etwa „über einen Steuerabzug“, schreibt er. Und das möchte Scholz auf EU-Ebene auch von der Kommissionspräsidentin sehen: „Ich bitte die Europäische Kommission dazu um eine entsprechende kurzfristige Initiative.“
Damit griff Scholz auch die Forderungen der Gewerkschaft IG Metall auf, die beim Gipfel ebenfalls auf eine solche Prämie drängte. Sie vertritt einen großen Teil der Beschäftigten in der Automobilwirtschaft und ist daran interessiert, dass die Geschäfte gut laufen.
Teilnehmer der Industriegipfel von Olaf Scholz im Bundeskanzleramt
Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI); Wirtschaftsvereinigung Stahl; Verband der chemischen Industrie (VCI); Verband Deutscher Maschinen und Anlagenbau (VDMA); BASF; Mercedes Benz Group; BMW; Volkswagen und Porsche; Wacker Chemie; Siemens; Bayer; SAP; Deutscher Gewerkschaftsbund (DGB); IG Bergbau, Chemie, Energie; IG Metall.
Quelle: Kanzleramt
Die Autoindustrie konnte sich auch bei einem heiklen Thema auf Scholz verlassen: Strafzahlungen, gegen die sich die Lobbyisten der Autobranche gerade vehement wehren.
Es geht um Flottengrenzwerte, also um die Frage, wie viel CO2 die ausgelieferten Fahrzeuge eines Herstellers im Schnitt ausstoßen dürfen. Ab 2025 soll ein geringerer Wert gelten. Autohersteller sollen dazu gebracht werden, mehr Autos mit alternativem Antrieb (etwa E-Antrieb) auf den Markt zu bringen. Bei Nichteinhaltung drohen Strafzahlungen.
„Deutschland steht zu den Zielen der Verordnung“, schreibt Scholz in seinem Brief an von der Leyen. Doch es dürfe nicht sein, „dass gerade die Unternehmen durch Strafzahlungen bei der Transformation geschwächt werden, die massiv in saubere Antriebstechnologien investieren.“
Fast wortgleich formuliert dies Volkswagen, einer der Teilnehmer am ersten Gipfel. In einem Lobby-Schreiben von November 2024 heißt es: „Der Volkswagen-Konzern steht zu den Klimazielen der Europäischen Union.“ Vor dem Hintergrund der aktuellen Marktentwicklung müssten die Hersteller aber „vor hohen Strafzahlungen geschützt werden“, schreibt VW an anderer Stelle.
Scholz störte sich nicht an kritischen Stimmen aus seiner eigenen Partei. Am 11. Oktober, zwei Wochen vor dem ersten Industriegipfel, sagte der wirtschaftspolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Bernd Westphal, dem Spiegel: „Wer die Flottengrenzwerte für Auto-Emissionen und das Aus des Verbrennungsmotors ständig infrage stellt, verhindert Innovationen und bestraft innovative Unternehmen.“
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Anliegen beim Kanzler untergebracht: Volkswagen-Chef Oliver Blume verlässt den Industriegipfel von Olaf Scholz.
Forderung III: Stahlindustrie unterstützen
Zufrieden mit Scholz dürfte auch die Stahlindustrie sein. Bei den Gipfeln hatte die Salzgitter AG und der Verband Wirtschaftsvereinigung Stahl (WV Stahl) ihre Anliegen vorgetragen – offenbar mit Erfolg.
Scholz übernahm ihre Forderungen in seinem Brief, etwa „die Durchsetzung und Verschärfung der Sanktionen gegen Russland im Stahlsektor und ein Konzept für einen Leitmarkt für grünen Stahl“. Die Hebel dafür lägen in Brüssel, so Scholz. Sogenannte Leitmärkte sind politische Instrumente, um Bedarf für ein bestimmtes Produkt zu schaffen und mit Förderungen und anderen Maßnahmen zu unterstützen.
Diese Forderungen finden sich fast wortgleich im Lobbyregister-Eintrag der Salzgitter AG: „Verschärfung der Einfuhrzölle auf russische Brammen im Zuge des 14. EU-Sanktionspakets gegen Russland“ und die „Etablierung von Leitmärkten für klimafreundliche Grundstoffe“. Das solle die Antwort darauf sein, „wie ein in der Herstellung teurerer ‘grüner’ Stahl verlässlich seinen Weg in die Anwendung findet“. Dies fordert auch die Wirtschaftsvereinigung Stahl in ihrem Lobbyregister-Eintrag.
Forderung IV: Berichtspflichten verschieben
Für viele große Unternehmen ist die Nachhaltigkeitsrichtlinie ein Ärgernis. Sie verpflichtet dazu, jährlich über die eigene Nachhaltigkeit und die Lieferkette zu berichten. Die SPD hatte sich Medienberichten zufolge gegen eine Aussetzung der Nachhaltigkeitsrichtlinie gesträubt.
In seinem Brief an von der Leyen übermittelt Scholz nun jedoch die Forderungen der Industrie und Verbände. „Eine Verschiebung der in der Nachhaltigkeitsrichtlinie (CSRD) enthaltenen Berichtspflicht um zwei Jahre … erscheint mir dringend geboten, um Unternehmen nicht zu überfordern.“
Damit positionierte sich Scholz gegen einen anderen Teilnehmenden des Gipfels: den DGB. Der Gewerkschaftsbund sprach sich in einer Anhörung nämlich gegen eine Verschiebung aus: „Die Verzögerung erschwert die Kontrolle und Umsetzung der gesetzlichen Vorgaben zur Achtung der Menschenrechte.“ Derzeit protestieren Gewerkschaften in Brüssel gegen die Verschiebung.
Wie die Teilnehmerliste zustande kam, will das Kanzleramt nicht sagen
Screenshot abgeordnetenwatch.de
MfG – Mit freundlichen Grüßen... Anfang Januar leitet Olaf Scholz die Wünsche der Industrie per Brief an Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen weiter.
Dass sich Olaf Scholz die Anliegen der Unternehmen zu eigen gemacht hat, weist das Kanzleramt zurück. Auf Anfrage von abgeordnetenwatch.de schrieb ein Sprecher, die Positionen des Bundeskanzlers seien „nicht neu“, er habe sie „häufig öffentlich - auch losgelöst von den von Ihnen vorgebrachten Gesprächen - geäußert.“
Warum keine zivilgesellschaftlichen Organisationen wie Umweltverbände eingeladen wurden, bleibt offen. Auf die Frage, wie die Teilnehmerliste zustande kam, wollte sich der Regierungssprecher nicht äußern.
Auch aus der Wirtschaft selbst gibt es Kritik am exklusiven Teilnehmerkreis. Der Präsident des Verbandes der freien Berufe, Stephan Hofmeister, schreibt auf Anfrage: „Die wirtschaftliche Schwäche trifft nicht nur (große) Industrieunternehmen, sondern auch kleine und mittelständische Betriebe, einschließlich der Freien Berufe.“ Es hätte einen breit angelegten Wirtschaftsgipfel gebraucht, bei dem alle Branchen und Sektoren einbezogen worden wären.
Nur ein Wahlkampfmanöver, meint die Opposition
Die Opposition wirft Scholz vor, mit seinem Brief die anstehende Bundestagswahl im Blick gehabt zu haben. Julia Klöckner, wirtschaftspolitische Sprecherin der Unions-Fraktion, bezeichnet die beiden Gipfel und den Scholz-Brief als „Wahlkampfgetöse“. „Der Brief war der verzweifelte Versuch, auch von der eigenen wirtschaftspolitischen Unfähigkeit abzulenken“, so Klöckner zu abgeordnetenwatch.de
Auch Christian Görke von den Linken hält den Brief „für nicht mehr als einen Wahlkampfmove“. „Die deutsche Wirtschaft hätte längst ein Konjunkturpaket gebraucht. Und zwar mit Entlastungen für die breite Mehrheit der Bevölkerung.” Görke kritisiert, „dass Scholz in dem Brief ausgerechnet das fordert, was ihm die Industrie auf dem Gipfel vorgetragen hat“.
Und wie kamen die Wünsche des Kanzlers in Brüssel an? Ob Olaf Scholz eine Antwort auf seinen Brief erhalten hat, wollten weder das Kanzleramt noch die EU-Kommission auf Anfrage mitteilen.