Lindners Wirtschaftswende-Konzept

So kam das Papier zustande, das zum Ampel-Aus führte

Wie entsteht ein politisches Papier, das eine ganze Koalition zerreißt? Interne Dokumente aus dem Finanzministerium zeigen, wie ein kleiner Kreis um Christian Lindner eine ordnungspolitische “Wirtschaftswende” entwarf – mit weitreichenden Folgen.

von Tania Röttger, 15.04.2025
Robert Habeck, Christian Lindner und Olaf Scholz vor schwarzem Hintergrund

Im Februar 2022, wenige Monate nach seinem Amtsantritt, holt sich Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) einen neuen Berater ins Haus: den Wirtschaftswissenschaftler Prof. Dr. Dr. h.c. Lars P. Feld. Lindner ernennt Feld zu seinem persönlichen Beauftragten, der ihn bei der Beurteilung makroökonomischer Fragen unterstützen soll – eine Funktion, die es vorher nicht gab. Medien werten Lindners Personalentscheidung als Affront gegen Olaf Scholz (SPD). Der Bundeskanzler hatte gut ein Jahr zuvor verhindert, dass Feld eine dritte Amtszeit als Wirtschaftsweiser antreten konnte.

Lindners politische Karriere ist inzwischen beendet. Dazu hat der FDP-Chef selbst wesentlich beigetragen: Sein sogenanntes “Wirtschaftswende-Papier”, das am 1. November 2024 durch das Magazin Stern an die Öffentlichkeit gelangte, war der Anfang vom Ende der Ampel-Koalition. Mit den weitreichenden Forderungen verprellte Lindner seine Koalitionspartner von SPD und Grünen.

Konzept aus dem Finanzministerium – mit FDP-Kernanliegen

Das Papier trug so sehr die Handschrift der Liberalen, dass es sich las, als käme es aus der Parteizentrale. Von der Einhaltung der Schuldenbremse über die Abschaffung des Solidaritätszuschlags bis hin zur Senkung des Bürgergeldes finden sich zahlreiche FDP-Kernanliegen.

Recherchen von abgeordnetenwatch.de zeigen nun, wie und von wem das Papier tatsächlich erstellt wurde. Fast 800 Seiten (PDF) musste das Finanzministerium auf unseren Antrag nach dem Informationsfreiheitsgesetz (IFG) herausgeben. Die internen Dokumente zeigen: Ein kleiner Kreis handverlesener Berater hatte das Papier formuliert – einer der Vordenker: Lars Feld.

Lars Feld spricht beim Ludwig Erhard Gipfel 2024
Wichtiger Vordenker im Hintergrund: Lindner-Berater Lars Feld (hier beim Ludwig Erhard Gipfel 2024)

Am Anfang gegen Klimaschutz

Die internen Unterlagen zeigen, dass es einen Vorläufer für das Wirtschaftswende-Papier gibt. Anfang Oktober 2024 bittet der Leiter der Unterabteilung Wirtschaft, Klima, Sozialstaat eine Kollegin per E-Mail, für einen Staatssekretär ein sogenanntes Non-Paper zu erstellen. Non-Paper sind inoffizielle Diskussionspapiere, die nicht für die Veröffentlichung bestimmt sind. 

Der Auftrag lautet, zu untersuchen, welche Folgen eine Anpassung der deutschen Klimaziele habe. Was würde geschehen, wenn Deutschland erst 2050 statt 2045 klimaneutral werde? „Wie viele Mittel würde die öffentliche Hand kumuliert bis 2050 einsparen können?“, fragt der Unterabteilungsleiter.

Bedenken werden übergangen

Das Dokument, das die Kollegin daraufhin erstellt, erfüllt die gewünschten Anforderungen nicht. Es enthält zum Beispiel keine Summen, die gespart werden können. Es weist allerdings auf juristische Schwierigkeiten und möglichen Gegenwind aus der Gesellschaft hin.

Diese Bedenken werden in den folgenden Wochen übergangen. 

Am 18. Oktober fließt der Grundgedanke des Non-Papers in ein neues Dokument ein. Daran mitgewirkt hat der persönliche Referent von Staatssekretär Wolf Reuter, der eine erste Version an einen Kollegen schickt. Die fünf Seiten werden innerhalb der nächsten zwei Wochen auf 19 anwachsen. Es ist Lindners berühmtes “Wirtschaftswende-Paper”. 
 

Wolf Reuter im Juli 2024 in der Bundespressekonferenz
Einer der Mitautoren des "Wirtschaftswende-Papiers" war Finanzstaatssekretär Wolf Reuter (hier im Juli 2024 in der Bundespressekonferenz)

Ein Name, der in den Akten des Finanzministeriums an keiner Stelle auftaucht, ist der von Lindner-Berater Feld. Das ist erstaunlich, denn die Ideen entsprechen dem, was Feld in Aufsätzen, Vorträgen und Stellungnahmen immer wieder geäußert hat.

Der Wirtschaftswissenschaftler ist ein Kritiker von finanzieller Förderung in der Klimapolitik. Im Juni 2024 sagte dem Magazin Focus, die Politik wolle in Klimaschutz investieren – “davon halte ich gar nichts, denn das bringt keinerlei Wirtschaftswachstum”. 

Seit Jahren ist Feld in verschiedenen neoliberalen Instituten aktiv. Er ist Direktor des Walter Eucken Instituts, Gutachter für die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft und Mitglied der Mont Pelerin Gesellschaft. Die Organisationen verbreiten kritische Standpunkte zur Klimaschutzpolitik, etwa im Zusammenhang mit deren Subventionierung.

Netzwerk alter Bekannter

Felds Hauptinteresse gilt allerdings der Schuldenbremse. Von 2007 bis 2009 war er Mitglied einer Kommission, die sie entwickelt hat. Lindner schätzte an ihm seine “ordoliberale Grundüberzeugung” und seinen “ordnungspolitischen Kompass”. 

Kurz nach Felds Ernennung zum Persönlichen Beauftragten des Ministers holt Lindner einen Mann ins Ministerium, der bei den Wirtschaftsweisen mit Feld zusammenarbeitete und der ebenfalls Verfechter einer strikten Schuldenbremse ist: Wolf Heinrich Reuter. Zuerst wird er Chefvolkswirt, später Staatssekretär, und als solcher wirkt er maßgeblich am Wirtschaftswende-Papier mit.

Feld und Reuter kennen sich seit langem. Immer wieder haben sie gemeinsame Artikel zur Verteidigung der Schuldenbremse veröffentlicht, mit Titeln wie: „Die Bewährungsprobe der Schuldenbremse hat gerade erst begonnen“ (2019), „Öffentliche Investitionen: Die Schuldenbremse ist nicht das Problem“ (2020), „Diese Schuldenpakete gefährden unseren Wohlstand“ (2025).

Eng an Reuters Seite arbeitet ein weiterer Anhänger der neoliberalen Denkschule: Sein persönlicher Referent und Mitverfasser des Wirtschaftswende-Papiers. Bis 2015 war dieser Mitglied in der Friedrich August von Hayek Stiftung, über den er auch seine Doktorarbeit schrieb. Dann trat er, wie auch Feld, aus Protest gegen einen Rechtsschwenk aus der Stiftung aus. Für das Finanzministerium tritt der Referent auch bei Organisationen auf, die eng mit Feld verbunden sind. 2023 hielt er einen Vortrag beim Leipzig Colloquium, einem Zusammenschluss verschiedener ordoliberaler Think Tanks – jener Strömung des Neoliberalismus, die von Walter Eucken und der Freiburger Schule begründet wurde. Zwei der Think Tanks werden von Feld geleitet.

Löschung durch "M"

Auch Christian Lindner bringt sich in das Papier ein. Der Finanzminister, der in den Unterlagen schlicht „M“ genannt wird, fügt Redewendungen, Referenzen und Kommentare ein. 

Im Entwurf des Wirtschaftswende-Papiers heißt es zunächst, dass in den nächsten drei Jahren “die volle Konzentration auf dem Abbau von Regulierung und Standards liegen” soll. Lindner präzisiert, wo er eingreifen will: beim Lieferkettengesetz sowie weiteren Gesetzen zum Schutz von Arbeitnehmer:innen wie das Entgelttransparenzgesetz oder die arbeitgeberfinanzierte Familienstartzeit. Belegt ist das durch eine E-Mail, die der Referent an seinen Chef Reuter schickt: „Hier dann das nach den M-Wünschen angepasste Konzeptpapier.“
 

E-Mail von Referent über "M"
"Hier dann das nach den M-Wünschen angepasste Konzeptpapier": Interne Mail aus dem Finanzministerium zu Änderungswünschen von Christian Lindner am "Wirtschaftswende-Papier"..

Aber „M“ löscht auch. Darunter eine Idee, die im ersten Entwurf des Wirtschaftswende-Papiers enthalten ist: Die „Hebelung von Infrastrukturinvestitionen durch privat finanzierte Fonds“. Gemeint ist, privates Kapital für die Infrastruktur zu nutzen – inklusive Ausschüttungen an die Investoren.

Genau zu diesem Thema erscheint in jenen Tagen eine Studie, die Feld für einen großen Finanzkonzern erstellt hat. Auftraggeber war die Union Investment AG , eine große deutsche Fondsgesellschaft. Feld kam zu dem Ergebnis: Es müsse privat finanzierte Fonds für die Infrastruktur geben, etwa für die Autobahn, Schienen oder den Netzausbau. Doch im Wirtschaftswende-Papier strich “M” diese Idee.
 

Löschung aus Wirtschaftswende-Papier zum Thema Infrastrukturfonds
Keine Infrastrukturinvestitionen durch privat finanzierte Fonds: Diese Idee propagierte ein enger Berater von Lindner. Der Minister strich sie aus dem Entwurf.

Wie war dieser Punkt in den Entwurf des Wirtschaftswende-Papiers gekommen? Steckte Feld dahinter? Das BMF bestreitet dessen aktive Beteiligung. Tatsächlich wird Felds Einfluss in der Akte aus dem BMF nicht sichtbar. Sie enthält keine E-Mails von ihm. 

Doch gegenüber abgeordentenwatch.de bestätigt Feld, dass die Idee aus dem Entwurf von ihm stammt: „Meine Vorschläge zur Infrastrukturfinanzierung schließen eine Grundgesetzänderung mit ein und dies ist durchaus eine höhere Hürde.” Deswegen, so vermutet er, seien sie am Ende aus dem Papier entfernt worden.

Claudia Kemfert, Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung (DIW)
Expert:innen wie Claudia Kemfert vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) halten es für illusorisch, dass sich die deutschen Klimaziele nach hinten verschieben lassen, wie es im Lindner-Papier vorgeschlagen wird.

Die Unterlagen über die Entstehung des Wirtschaftswende-Papiers zeigen, dass Lindner, der einmal „Vernunft statt Ideologie“ und ein anderes Mal „eine ideologiefreie Klimapolitik“ forderte, selbst kein unideologisches Haus führte. 

Ein Beispiel ist die Verschiebung der Klimaziele auf 2050. Dass dies möglich ist, halten Fachleute für illusorisch. Die Klimaexpertin vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung, Claudia Kemfert, sagt gegenüber abgeordnetenwatch.de: “Wer die Anpassung auf 2050 plant, muss die EU-Klimapolitik radikal verändern.“ Dazu müsste EU-Recht angepasst und Emissionszertifikate neu ausgestellt werden. Es sei ein Trugschluss, sagt Kemfert, dass eine Neuausrichtung der deutschen Ziele einfach so möglich sei.

Das Wirtschaftswende-Papier, das im Finanzministerium entstand und viele FDP-Kernforderungen aufgreift, sollte der liberalen Partei kein Glück bringen. Bei der Wahl erhielt sie 4,3 Prozent der Stimmen und flog aus dem Bundestag. 

Ironie der Geschichte: Die Neuwahlen führten zu einem gigantischen Schuldenpaket ("Sondervermögen") – was Lindner und seine Partei immer verhindern wollten.

Vorkommende Politiker:innen

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