Wilhelm Hunting
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Frage von Hans T. •

Frage an Wilhelm Hunting von Hans T. bezüglich Innere Sicherheit

Das Stastische Amt meldet heute eine Zunahme der Jugendkriminalität in Hessem seit dem Antritt von Roland Koch als Misterpräsident. Wissen sie zufällig die niedersächsischen Zahlen?

Mit freundlichen Grüßen
Hans Thiel

Antwort von
SPD

Sehr geehrter Herr Thiel,

vielen Dank für Ihre Anfrage. Hiezu stelle Ihnen gerne die gewünschten Informationen zur Verfügung, die ich diesem Mail beifüge.

Mit freundlichen Grüßen

Wilhelm Hunting

1. Steigt die Jugendkriminalität?

Nein, sie ist seit 1998 kontinuierlich gesunken. Vor 10 Jahren wurden noch 8,2 Prozent aller 14- bis 18-Jährigen von der Polizei als Tatverdächtige registriert. 2006 waren es 7,4 Prozent. Auch zu den Heranwachsenden verzeichnet die Polizei einen leichten Rückgang von 8,9 auf 8,4 Prozent.

Auch der Anteil der Jugendlichen an den insgesamt registrierten Tatverdächtigen ist leicht zurückgegangen: In Niedersachsen betrug dieser Anteil 1997 noch 13,5 %, 2006 waren es nur noch 13,1 %. Vor dem Hintergrund dieser Daten der Polizeilichen Kriminalstatistik kann von einem besorgniserregenden Anstieg der Jugendkriminalität nicht die Rede sein.

2. Steigt die Jugendgewalt?

Hier muss man differenzieren. Vorsätzliche Tötungsdelikte Jugendlicher haben seit 1993 pro 100.000 der Altersgruppe um 41 Prozent abgenommen, Raubdelikte sind seit 1997 kontinuierlich um 20 Prozent zurückgegangen. Angestiegen sind dagegen die Zahlen der polizeilich registrierten Tatverdächtigen der gefährlichen/schweren Körperverletzung. 1996 wurden 0,59 Prozent der Jugendlichen mit diesem Delikt registriert. 10 Jahre später waren es 0,93 Prozent. Diese Zunahme beruht allerdings auch darauf, dass die Anzeigebereitschaft zugenommen hat. Zu den Heranwachsenden zeichnet sich im Übrigen ein entsprechendes Bild ab (Rückgang der Tötungsdelikte und der Raubtaten, Anstieg der gefährlichen/schweren Körperverletzungen).

In Niedersachsen hat die Zahl der polizeilich als Tatverdächtige eines Körperverletzungsdeliktes registrierten Jugendlichen von 4.140 im Jahr 1997 auf 8.052 im Jahr 2006 zugenommen. Auch dies hängt mit der Veränderung der Anzeigepraxis zusammen: Im September 2003 trat in Niedersachsen der „Gem. RdErl. des MK, des MI und des MJ v. 30.09.2003; Zusammenarbeit von Schule, Polizei und Staatsanwaltschaft“ in Kraft. Ziel dieses Erlasses ist, die Sicherheit der Schülerinnen und Schüler beim Schulbesuch zu gewährleisten und Straftaten im Lebensraum Schule sowie strafbares Verhalten von Schülerinnen und Schülern auch außerhalb der Schule zu verhüten. Mit der Erlassregelung wurde u.a. ein Informationsaustausch zwischen den beteiligten Institutionen verbindlich vereinbart und eine Anzeigepflicht für Schulen festgeschrieben. Diese Anzeigepflicht hat in der Folge - wie beabsichtigt - zu einem Anstieg der polizeilich bekanntgewordenen Delikte geführt. Allein zwischen 2005 und 2006 ist in Niedersachsen die Zahl der einer Körperverletzung Tatverdächtigen mit Tatort Schule von 2.013 auf 3.257 angestiegen. Es handelt sich dabei also um ein verstärktes Bekanntwerden zuvor nicht angezeigter Delikte und damit nicht um einen tatsächlichen Straftatenanstieg, sondern um eine Aufhellung des Dunkelfeldes.

3. Stimmt das, was Ministerpräsident Koch zum Anteil der Migranten an der Jugendgewalt gesagt hat?

Ministerpräsident Koch sagte am 2.1.08: „Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass die Hälfte aller Straftaten, die körperliche Gewalt gegen andere beinhalten, von Menschen unter 21 Jahren werden in Deutschland. Und dass die Hälfte dieser Täter, Täter mit einem Migrationshintergrund sind“. Beide Behauptungen sind falsch. Nach der Polizeilichen Kriminalstatistik liegt der Anteil der unter 21-Jährigen an den Gewaltdelikten einschließlich der einfachen Körperverletzung bei 33 Prozent. Die Polizeiliche Kriminalstatistik weist ferner aus, dass der Anteil der Ausländer an den unter 21-jährigen Tatverdächtigen solcher Straftaten, die körperliche Gewalt gegen andere beinhalten, bei 19 Prozent liegt. Nun könnte Herr Koch einwenden, ein beachtlicher Anteil der Migranten hätte inzwischen einen deutschen Pass. Diese müsste man mit einbeziehen. Genau das hat das Kriminologische Forschungsinstitut in einer 2005 durchgeführten Befragung von 17.000 Jugendlichen getan. Danach ergibt sich hochgerechnet auf die gesamte Bundesrepublik ein Anteil der 14- bis 16-jährigen Migranten an den Gewalttaten dieser Altersgruppe von ca. 27 Prozent.

In Niedersachsen ist der Anteil nichtdeutscher Tatverdächtiger (einschließlich Touristen, Durchreisender, Stationierungsstreitkräfte) an den insgesamt registrierten Straftaten von 21,78 % im Jahr 1997 auf 15,61 % im Jahr 2006 zurückgegangen.

4. Hat Herr Koch aber damit recht, dass junge Ausländer krimineller sind als junge Deutsche?

Auch hier muss man genau hinsehen. Die vom Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen (KFN) durchgeführte Schülerbefragung des Jahres 2005 hat eines klar gezeigt: Junge Türken, die die Realschule besuchen und sowohl sozial wie familiär unter positiven Rahmenbedingungen aufwachsen, unterscheiden sich in ihren Gewaltraten nicht von vergleichbaren deutschen Realschülern. Die türkischen Realschüler haben zu 12,5 Prozent angegeben, dass sie im letzten Jahr mindestens eine Gewalttat begangen haben, 1,7 Prozent waren dabei Mehrfachtäter (mindestens fünf Gewaltdelikte im Jahr vor der Befragung). Die Vergleichsdaten der Deutschen lauten 12,0 Prozent und 1,9 Prozent. Insgesamt betrachtet ergibt sich für die jungen Migranten eine etwa doppelt so hohe Gewaltrate wie für junge Deutsche. Eine Hauptursache dafür ist die Tatsache, dass 22 Prozent der männlichen jungen Migranten die Schule ohne Abschlusszeugnis verlassen – und dies, obwohl eine weitere KFN-Untersuchung erbracht hat, dass junge Migranten im Alter von 8 dieselbe Intelligenz aufweisen wie einheimische Deutsche. Zudem sind junge Migranten erheblich stärker mit innerfamiliärer Gewalt belastet und wachsen häufig unter Armutsbedingungen auf. Anders ausgedrückt: Bei den erwähnten Kriminalitätsraten der jungen Migranten handelt es sich um ein Unterschichtsproblem. Ein deutlicher Beleg dafür ist die Tatsache, dass nach den Erkenntnissen des KFN rechtsextreme junge Gewalttäter sich als geistige Zwillinge der jungen Migranten entpuppt haben, die als Mehrfachtäter der Gewalt aufgefallen sind. Auch sie sind in ihrer Biographie meist von innerfamiliärer Gewalt und schulischen Misserfolgen geprägt und orientieren sich ebenfalls sehr stark an den Werten der Macho-Kultur.

5. Brauchen wir zur Bekämpfung der Jugendgewalt ein härteres Jugendstrafrecht mit Warnschussarrest und einer Höchststrafe von 15 Jahren?

Mehr Jugendarrest wäre falsch, weil die Rückfallquote dieser Maßnahme bei 71 Prozent liegt. Die Erhöhung der Höchststrafe von 10 auf 15 Jahre würde bei Verfahren wegen Tötungsdelikten zum Tragen kommen. Gerade Mord und Totschlag haben aber bei Jugendlichen seit 1993 um 41 Prozent abgenommen. Nein, wir brauchen kein härteres Jugendstrafrecht, sondern mehr Engagement im Präventionsbereich. Soziale Missstände und Defizite des Bildungswesens lassen sich nicht mit härteren Sanktionen bekämpfen.

6. Was spricht dagegen, Heranwachsende generell nach Erwachsenenstrafrecht zu verurteilen?

Bei der Unionsforderung nach einer generellen Bestrafung von Heranwachsenden nach Erwachsenenstrafrecht handelt es sich um reinen Populismus. Der Populismus dieser Forderung wird bei der Betrachtung konkreter Einzelfälle sichtbar: Wird ein achtzehnjähriger Heranwachsender z.B. aufgrund einer Körperverletzung nach Erwachsenenstrafrecht verurteilt, kommt er mit hoher Wahrscheinlichkeit mit einer (nach seinem Einkommen bemessenen) Geldstrafe davon. Die Verurteilung nach Jugendstrafrecht ist aus Sicht des Heranwachsenden wesentlich eingriffsintensiver: Hier kann neben Jugendarrest oder Jugendstrafe z.B. ein sozialer Trainingskurs, ein Täter-Opfer-Ausgleich oder auch eine Arbeitsleistung verhängt werden. Ein derartiges Eingriffsinstrumentarium mit zahlreichen Auflagen und Weisungen steht im Erwachsenenstrafrecht nicht zur Verfügung. Die Jugendrichterinnen und Jugendrichter in Deutschland wissen schon, warum sie bei Heranwachsenden häufig auf das Jugendstrafrecht zurückgreifen. Das hat mit Sicherheit nichts mit Sozialromantik oder übertriebener Milde zu tun. Wichtiger als solche Debatten ist es, Staatsanwaltschaften und Gerichte ordentlich mit Personal auszustatten, damit das Urteil der Tat auf dem Fuße folgen kann. Nach Berechnungen des Niedersächsischen Richterbundes fehlen derzeit allein in der Strafgerichtsbarkeit hunderte Stellen. Die SPD hatte im Dezember 145 zusätzliche Stellen für die Justiz beantragt, CDU und FDP haben dies jedoch abgelehnt.

7. Brauchen wir für gefährdete Jugendliche Erziehungscamps?

Bisher ist unklar, was die CDU damit meint. Sollte sie sich am Vorbild der Bootcamps in den USA orientieren, kann man ihr nur eindringlich davon abraten. Mehrere Untersuchungen haben in den USA ergeben, dass die Rückfallquote ein Jahr nach der Entlassung aus dem Camp zwischen 64 und 75 Prozent lag. Angesichts dieses Fehlschlags haben sich inzwischen viele Bundesstaaten dazu entschlossen, diese Maßnahme nicht mehr einzusetzen.

Sollte die CDU mit ihren Erziehungscamps aber geschlossene Jugendheime meinen, dann wird hier nur ein neuer Begriff verwendet. Der zentrale Nachteil solcher Einrichtungen liegt auf der Hand. Aus der Zusammenballung hoch belasteter Jugendlicher erwachsen Konflikte, die pädagogisch nur mit großer Mühe bearbeitet werden können. Die Alternative dazu liegt auf der Hand: Wir sollten das Konzept der Pflegefamilien, das bisher primär bei Kindern eingesetzt wird, auf Jugendliche ausweiten. Dies geschieht bereits mit beachtlichem Erfolg in einigen Bundesländern. Die Pflegeeltern werden durch spezifische Fortbildungsmaßnahmen auf ihre Aufgabe vorbereitet und während der Betreuungszeit durch hauptberufliche Pädagogen beraten. Bei einer Bezahlung von ca. 1.400 Euro pro Monat liegen die Kosten bei etwa einem Drittel der Ausgaben, die man für die Heimerziehung eines Jugendlichen aufbringen muss.

8. Was also brauchen wir als Konzept zur Bekämpfung der Jugendgewalt?

Wir sollten uns am Beispiel der Städte und Landkreise orientieren, in denen die Jugendgewalt seit Jahren rückläufig ist. Die KFN-Untersuchung kann dies am Beispiel Hannovers demonstrieren. Dort hat der Kommunale Präventionsrat in den letzten 10 Jahren sich mit einer Fülle von Projektinitiativen gemeinsam mit Schulen, Sportvereinen, Freizeiteinrichtungen und anderen Institutionen engagiert darum bemüht, der Jugendgewalt entgegenzuwirken. Zudem ist es gelingen, die jungen Migranten zunehmend besser in das Bildungssystem zu integrieren. Junge Türken gingen beispielsweise 1998 zu knapp der Hälfte in die Hauptschule, inzwischen ist es nur noch knapp ein Drittel. Die Gymnasiumsquote ist dafür von 9 auf 15 Prozent gestiegen und der Anteil derjenigen, die die Realschule besuchen von 44 auf 52. Parallel dazu hat die Quote junger türkischer Gewalttäter von 32 auf 22 Prozent abgenommen, die der Intensivtäter ist von 15 auf 7 Prozent zurückgegangen.

9. Es bedrückt mich sehr, wenn ich in der Zeitung von immer mehr Überfällen auf alte Leute lese. Ich bin selber im Rentenalter und habe den Eindruck, dass diese Gesellschaft immer mehr verroht. Was wollen Sie dagegen tun?

Es wäre falsch, pauschal von einer Verrohung der Gesellschaft zu sprechen. Im Gegenteil: Unsere Gesellschaft ist in den letzten zwanzig, dreißig Jahren deutlich sicherer geworden. Gleichzeitig hat sich jedoch die Zahl der Medienberichterstattungen über spektakuläre Einzelfälle dramatisch erhöht, so dass wir den Eindruck haben, diese Art von Straftaten habe sich tatsächlich erhöht. Die Polizeiliche Kriminalstatistik zeigt jedoch, dass beispielsweise der Anteil der über sechzigjährigen Opfer an den insgesamt registrierten gefährlichen Körperverletzungen in Deutschland allein zwischen 2003 und 2006 von 3,9 % auf 3,1 % leicht gesunken ist.

Ich möchte allerdings nichts verharmlosen und bin der Meinung, dass wir die nicht nur von Ihnen wahrgenommenen Alarmsignale sehr ernst nehmen müssen. Deshalb werde ich mich für eine gute Personalausstattung von Polizei und Justiz einsetzen - die Polizeibeamten müssen von Verwaltungstätigkeiten entlastet und der eklatante Personalmangel in der Justiz muss beendet werden. Mir ist jedoch noch ein weiterer Punkt sehr wichtig: Wir müssen auch den Gemeinsinn stärken und brauchen eine Kultur des Hinschauens statt des Wegschauens. Nur dadurch wird es möglich sein, sowohl das Einschreiten gegen die Vernachlässigung und Misshandlung von Kindern zu verbessern als auch Übergriffe auf ältere Menschen weiter zu verringern.

10. Sie haben gesagt, man müsse der Jugendkriminalität mit mehr Integrationsbemühungen begegnen. Das ist doch blauäugig. Wie wollen Sie denn damit das Problem in den Griff bekommen?

Damit es keine Missverständnisse gibt: Die SPD ist für schnelle und auch in der Höhe angemessene Strafen. Die härtesten Strafen nutzen aber nichts, wenn wir das dahinter liegende Problem nicht bekämpfen. Es ist daher nicht blauäugig, sondern im Gegenteil im Interesse des bestmöglichen Opferschutzes notwendig, präventiv an den Wurzeln der Kriminalität anzusetzen. Wissenschaftliche Untersuchungen haben gezeigt, dass es eine Reihe von Faktoren (z.B. Perspektivlosigkeit, Gewalterfahrungen in der Familie, schlechte Bildungschancen, Medienkonsum) gibt, die - übrigens ganz unabhängig von der Nationalität der Jugendlichen - das Risiko von Jugendgewalt nachweisbar erhöhen. Ich hielte es für falsch, diese Erkenntnisse zu ignorieren.

11. Die CDU sagt, sie habe die innere Sicherheit messbar verbessert, die Aufklärungsquote sei auf einem historischen Höchststand. Was will die SPD besser machen?

Die Aufklärungsquote misst den Erfolg der polizeilichen Aufklärungsquote. Die Sicherheit eines Landes beurteilt sich aber nicht an der polizeilichen Aufklärungsquote, sondern am Risiko, Opfer einer Straftat zu werden. Wer sich als Tourist über die Sicherheitslage eines möglichen Urlaubszieles erkundigt, der lässt sich nicht dadurch beruhigen, dass es zwar überdurchschnittlich viele Straftaten gibt, die Polizei aber deutlich mehr als die Hälfte dieser Straftaten aufklären kann. Er wird sich eher für ein Reiseziel entscheiden, in der es ein geringeres Risiko gibt, zum Opfer einer Straftat zu werden. Aus diesem Grund ist es besorgniserregend, dass ausweislich der vom Innenminister am 11. Januar 2008 vorgestellten Daten der Polizeilichen Kriminalstatistik für das Jahr 2007 die Zahl der polizeilich registrierten Straftaten erneut gestiegen ist. Die Zahl der Tatverdächtigen hat 2007 sogar den höchsten Wert seit Einführung der elektronischen PKS-Erfassung zu Beginn der 70er Jahre erreicht. Diese Zahlen zeigen, dass sich die innere Sicherheit unter der Regierung Wulff keineswegs verbessert hat. Um diese Negativentwicklung zu stoppen, wird es in den nächsten Jahren ganz entscheidend darauf ankommen, endlich wieder die Ursachen der Kriminalität ins Visier zu nehmen. Hier gilt nach wie vor der Satz, dass es innere Sicherheit ohne soziale Sicherheit nicht geben kann. Dies hat sich spektakulär in den Randbereichen der französischen Landeshauptstadt gezeigt und dies zeigt sich - wenngleich weit weniger spektakulär - auch in vielen Fällen von Jugendkriminalität in Niedersachsen. Gegen Perspektivlosigkeit kann man mit den härtesten Strafen nichts ausrichten.